Liebeskind
irgendwann beschlossen hatte, der Schwester all die vielen Demütigungen und die Würgegriffe heimzuzahlen. Judo oder ein anderer Kampfsport sollte es sein. Als sie zum ersten Mal mit zehn Jahren in ihrem weißen Baumwollanzug und ebensolchem Gurt auf einer Matte gestanden hatte, hatte sie gespürt, hier war sie richtig. Auch wenn Anna viel kleiner und von geringerer Körperkraft gewesen war als alle anderen in ihrer Gruppe, hatte sie von Anfang an Möglichkeitengefunden zu punkten. Sie konnte sich unglaublich schnell bewegen, erahnte die Schritte ihrer Partner, noch bevor jene sie ausführten. So ließ sie ihre Gegner oft ins Leere laufen, brach deren Gleichgewicht, ohne Kraft anwenden zu müssen, und sah zu, wie sie auf die Matte krachten. Bei den Bodenübungen allerdings hatte sie es schwer. Saß erst einmal einer dieser Brocken auf Annas Leib, gab es nicht mehr viel, was sie tun konnte. Doch mit der Zeit lernte sie, sich auch aus diesen scheinbar ausweglosen Situationen zu befreien. Die Kunst bestand darin, gar nicht erst in solche zu geraten. Für sie war der Sport von Anfang an eher ein Messen des Geistes gewesen als ein Messen der Körperkräfte. Und sie hatte keine Angst, ihren Gegnern in die Augen zu sehen, so war sie bald die Beste ihres Jahrgangs geworden. Irgendwann hatte Anna dann auch keine Rachegelüste mehr verspürt, und Judith war mittlerweile einer ihrer größten Fans. Sie begleitete die kleine Schwester zu jedem Wettkampf. Als Anna erwachsen geworden war, hatte der Weg klar vor ihr gelegen. Sie wollte unbedingt zu den Guten gehören. Und gut waren Ärzte oder solche Menschen, die in anderen sozialen Berufen arbeiteten. Gut waren Krankenschwestern und Polizisten. Polizisten aber waren die Einzigen, die regelmäßig Kampfsport trainierten. Es war die Zeit gewesen, in der Anna gegenüber ihren Klassenkameraden jedes Gespräch über ihre berufliche Zukunft vermied. Denn viele von ihnen hatten ältere Brüder oder zumindest eine von der Studentenbewegung geprägte Cousine. Wenn diese dann ab und zu auf Besuch kamen, trugen sie ihre Haare noch immer lang und waren so cool, wie die Jüngeren nie glaubten werden zu können. Zwar hatten mittlerweile auch sie lange Haare und zerrissene Jeans, aber darüber regte sich niemand mehr auf. Das Mindeste, was sie tun konnten, um ihren Idolen, ihren Vorkämpfern für ein selbstbestimmtes Leben zu imponieren war deshalb, eine politisch korrekte, kritische Haltung an den Tag zu legen. Eine kritische Haltung dem Staat und seinen Institutionen gegenüber. Bullen waren Schweine. Aber Anna wollte sich damals nicht mehr rechtfertigen und auch nicht mehr grundsätzlich darüber nachdenken müssen, was denn das Gute sei. Sie war oft allein gewesen in dieser Zeit. Heute fragte sie sich allerdings schon manchmal, warum denn eine Hand voll friedlich demonstrierender Menschen im Namen des Staates von Polizisten eingekesselt und verprügelt werden mussten. Wer konnte darin etwas Gutes sehen? Aber sie hatte ihre Seite seit Langem gewählt. Anna war Polizistin geworden. Jetzt trat sie zögernd auf Paula zu.
„Ich mache mir Sorgen um Ben.“
Paula nahm ihre Fellmütze ab, öffnete die Haustür und schälte sich im Flur aus den hohen Gummistiefeln. Sie lächelte.
„Komm rein.“
8
Elsa in Maschen, im Winter 1985.
Als Elsa an diesem Mittag von der Schule nach Hause kam, saß Vera noch immer in ihrem Nachthemd in der Küche herum. Auf dem Tisch vor ihr lag ein Brief. Vera starrte unbeweglich auf das rechteckige Kuvert, und Elsa schien es, als hätte ihre Mutter schon den ganzen Vormittag in dieser starren Haltung dagesessen.
„Warum hast du dich nicht angezogen, Mama? Die Kleinen kommen gleich.“
Vera schüttelte den Kopf und steckte sich eine Zigarette an.
„Hier, für dich. Dein Vater war vorhin da, hat endlich seine Sachen abgeholt. Viel länger hätte ich auch nicht gewartet, dann wäre sein ganzer Kram im Müllcontainer gelandet.“
„Habt ihr über Weihnachten und meinen Geburtstag gesprochen?“
Vera drückte die Zigarettenkippe im Aschenbecher aus und stierte, ohne eine Regung zu zeigen, auf einen Rest Glut, der an ihrem Finger hängen geblieben war. Als sie ihre Hand schließlich schüttelte, landete die Glut auf dem Tisch und brannte ein Loch in die beigefarbene Plastikdecke. Vera schien es nicht zu bemerken. Schnell nahm Elsa einen feuchten Lappen von der Spüle und wischte die Aschereste fort.
„Ich sorge dafür, dass er kein Bein mehr auf die Erde
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