Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Nachdem es den ganzen Tag regnerisch gewesen war, war die Sonne nun doch noch kurz herausgekommen.
Wenn tatsächlich, wie Seehafer angedeutet hatte, Leute von der Kripo das Gelände beobachteten, dann machten sie ihre Sache sehr gut. Mathilde bemerkte nur zwei ältere Damen. Eine schleppte welke Kränze herum, die andere trug eine frische Schale mit Grünzeug vor sich her. Kripobeamtinnen? Schwer vorstellbar.
Vor dem Grab blickte sich Mathilde um. Niemand war zu sehen. Auf dem Rechteck vor dem polierten Granit wuchs einzig eine kleine Efeupflanze, die Mathilde aus einer Schale vor dem Kompost gerettet und in die Erde gesetzt hatte. Der alte Efeu war der Neubelegung des Grabes durch Franziska zum Opfer gefallen. Die Neugestaltung der Grabstätte wollte sie nach den Sommermonaten angehen. In Zukunft würde sie ja Zeit in Hülle und Fülle für die Grabpflege übrig haben.
Unter den Blättern des Efeus schimmerte es braun. Mathilde ging in die Knie. Es war ein gepolsterter DIN-A5-Briefumschlag. Er war zugeklebt, nichts stand darauf. Sie faßte ihn an der äußersten Ecke an und trug ihn zum Wagen. Dort zog sie die Einweghandschuhe an, die Seehafer ihr gegeben hatte. Sie riß den Umschlag auf. Kein Brief. Er schien leer zu sein. Sie schüttelte ihn. Etwas kleines, rotes fiel ihr in den Schoß. Sie mußte ein paar Sekunden hinsehen, ehe sie es erkannte. Es war ein langer, künstlich verstärkter Fingernagel, an dessen einem Ende ein verschrumpelter, blutverkrusteter Hautfetzen hing.
Treeske stand im Aufzug und hielt ihre Post in der Hand. Beeil dich, du alte Kiste, trieb sie den Aufzug in Gedanken an. Sie haßte den Gang zum Briefkasten. Den ganzen Tag hatte sie es vor sich hergeschoben, nach unten zu gehen. Was, wenn er ausgerechnet in diesen Minuten anrief? Sie quetschte sich durch die Tür, kaum daß der Aufzug hielt. Ihr war, als hätte sie in ihrer Wohnung das Telefon klingeln hören. Hastig sperrte sie auf. Nein, es war nur die übliche Täuschung, der sie immer wieder aufsaß – unter der Dusche, in der Küche. Ständig meinte sie, ein Klingeln zu hören, das es gar nicht gab.
Sie war selbst schuld. Warum hatte sie so ein Theater gemacht wegen dieser Frau im Café? Natürlich hatte er ihr mit keinem Wort erklärt, was es mit der Person auf sich hatte. Erklärungen oder gar Rechtfertigungen waren nicht seine Art.
Er wird sich melden, tröstete sie sich. Er wird zurückkommen. Seine ganzen Sachen sind hier. Und er hat mein Auto. Was natürlich für Lukas keine Bedeutung hatte, so realistisch mußte man sein. Er hatte sich immer genommen, was er wollte.
Beruhige dich, sagte sie sich. Wir werden zusammen ein neues Leben beginnen. Das hatte er gesagt. Du mußt daran glauben, dann passiert es auch.
Sie blätterte die Post durch. Werbung, Rechnungen, ein Brief von einem Internet-Reiseanbieter. Adressiert an einen französischen Namen, der über ihrer Anschrift prangte und den sie noch nie gehört hatte.
Wohl wissend, daß sie etwas tat, was Lukas auf keinen Fall tolerieren würde, schlitzte sie den Brief auf. Sie sah die Papiere durch. Drei Flugtickets: Hannover – Frankfurt, Frankfurt – Buenos Aires, Buenos Aires – Asunción, Paraguay. Abflug am Sonntag, dem 21. August. In vier Tagen also. Ein Eiszapfen fuhr durch Treeskes Herz, als sie sah, daß sämtliche Tickets nur auf eine Person ausgestellt worden waren.
»Leona hatte diesen Tick mit ihren Nägeln. Sie hat sie jede Woche in einer anderen Farbe lackiert«, sagte Mathilde. Sie saß wieder in der Küche und war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Die Untersuchung der DNA wird ergeben, ob er wirklich von ihr stammt«, entgegnete Seehafer. »Ich habe da so meine Zweifel.«
»So?«
»Warum hat er Sie nicht mit Leona sprechen lassen, am Telefon? Das wäre ein eindeutiges Lebenszeichen gewesen. Oder wenn er ihr einen ganzen Finger abgeschnitten hätte …«
»Oder den Kopf.«
»Verzeihung. Man stumpft mit der Zeit ab. Sie wissen, was ich meine. Anhand der Fingerabdrücke hätten wir recht schnell sagen können, ob es ihrer ist.«
»Das setzt aber voraus, daß er weiß, daß ich die Polizei informiert habe.«
»Damit muß er rechnen. Aber nun kommt dieser Fingernagel … er weiß, daß eine DNA-Untersuchung eine Weile dauert. Er will die Identifikation hinausschieben.«
»Warum? Weil sie tot ist?« fragte Mathilde erschrocken.
»Nicht unbedingt.«
Mathilde stand auf. »Ich glaube, ich brauche jetzt was Hochprozentiges. Sie auch?«
»Wenn Sie
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