Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
vielleicht ein Glas Wein hätten?«
Mathilde stellte Kognak, einen Poliziano, Gläser und eine Dose Erdnüsse auf den Tisch und suchte nach einem Korkenzieher. Aber ehe sie ihn fand, hatte der Kommissar schon sein Schweizermesser gezückt und die Flasche geöffnet.
Sie tranken schweigend. Die untergehende Sonne entzündete ein Leuchtfeuer in der Küche. Wieso war er noch immer hier? Zu ihrem Schutz? Aus Sympathie?
Mathilde, was bildest du dir ein? Hast du denn aus den jüngsten Erfahrungen gar nichts gelernt? Vermutlich war er hier, weil er ihr Vertrauen gewinnen und sie über Lukas aushorchen wollte.
Als die Sonne versunken war, sagte Seehafer: »Der Vater von Johanna Gissel ruft alle sechs Monate bei mir an und fragt, ob es neue Erkenntnisse gibt. Er möchte wissen, wo seine tote Tochter ist, damit er sie beerdigen kann. So was geht einem an die Nieren.«
Mathilde nickte. Sie hatte Franziska wenigstens beerdigen können. Doch wie infam war es von Lukas gewesen, den ausgerissenen Fingernagel ausgerechnet auf Franziskas und Merles Grab zu plazieren. Nie mehr würde sie die beiden besuchen können, ohne an diesen grausigen Moment denken zu müssen. Offenbar hatte er vor, ihr Leben auf allen nur möglichen Ebenen zu zerstören. Sogar ihrer Beziehung zu den Toten hatte er nun seinen Stempel aufgedrückt.
Zuerst lief sie einfach nur geradeaus, bis sie nicht mehr konnte. Das dauerte nicht lange, denn sie besaß kaum Kondition, und in diesen Schuhen war das Laufen im unebenen Gelände nahezu unmöglich. Sie blieb stehen. Totenstill lag der dämmrige Wald vor ihr. Ihr keuchender Atem war das einzige Geräusch. Sie preßte die verletzte Hand an die Brust und überlegte.
Selbst wenn er sich an die zehn Minuten hielt, was sie nicht glaubte, standen ihre Chancen schlecht. Er würde ihre Spur aufnehmen wie ein Bluthund und sie aufstöbern. Vielleicht wartete er nur, bis es dunkel wurde und sie sich in Sicherheit wähnte. Vielleicht bereitete es ihm ein besonderes Vergnügen, sie ganz langsam zur Strecke zu bringen. Wenn sie nur wüßte, wie groß der Wald war. Sie mußte ein sicheres Versteck finden. Hastig zog sie ihre Schuhe aus, deren Absätze sich an manchen Stellen tief in den weichen Boden gedrückt hatten. Von nun an durfte sie keine Spuren mehr hinterlassen. Die Schuhe in der Hand ging sie weiter. Manchmal war es einfach, weil der Boden frei von Ranken war, dann wieder kämpfte sie sich unter Tränen durch Gebüsch und Brennesseln. Sie war barfuß gehen nicht gewohnt. Immer wieder trat sie auf spitze Steine oder Dornen. Ihr T-Shirt war zerrissen, ihre Arme, die sie schützend vor das Gesicht hielt, waren zerkratzt und brannten. Hätte sie nur wenigstens eine lange Hose an! Aber die gehörte leider nicht zu ihrer Berufskleidung. Der Wald lichtete sich ein wenig. Sie war an einem steilen Abhang angekommen. Wohin jetzt? Da hinunter, rechts oder links? Sie durfte nicht riskieren, im Kreis zu gehen, und sie durfte nicht den einfachsten Weg wählen, denn damit rechnete er. Es war nicht zu erkennen, was sie am Fuß dieses Abhangs erwartete, dafür waren die Bäume zu dicht belaubt. Was, wenn sie in eine Falle lief? Dennoch, sie mußte das tun, was er nicht erwartete: den schwierigen Weg nehmen. Sie rutschte und hangelte sich von Baumstamm zu Baumstamm. Die Schuhe in ihrer Hand waren hinderlich, aber sie wagte nicht, sie wegzuwerfen. Wenn sie hier ins Straucheln geriet, würde sie sich gleich das Genick brechen, dachte sie, während sie versuchte, möglichst wenig Schleifspuren zu hinterlassen. Auf diese Weise legte sie etwa hundert Meter zurück. Am tiefsten Punkt der Senke befand sich ein Teich, der auf den ersten Blick kaum als solcher erkennbar war. Schlammige Schlieren bedeckten die Wasseroberfläche, und auf dieser Schicht lagen vereinzelt dürre braune Blätter. Ein Baum war umgefallen, sein verrottender Stamm schwamm auf dem Wasser. Sie hatte Durst. Giftig würde das Wasser wohl nicht sein, höchstens abgestanden. Sie näherte sich dem Tümpel und versuchte, unter der Algenschicht klares Wasser zu schöpfen. Die Wunde an ihrem Mittelfinger begann sofort wieder zu brennen, als sie mit dem Wasser in Berührung kam. Ihre Füße sanken tief im Uferschlamm ein. Sie verbot sich, daran zu denken, was für Getier dieser Sumpf beherbergen mochte. Andererseits – in diesen Breiten gab es keine gefährlichen Tiere in Gewässern. Sie mußte einzig ihren Ekel überwinden. Darin war sie geübt, schließlich verdiente sie damit
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