Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
kleinen Hotels nahe der Inselhauptstadt St. Anne, vor sich eine Kanne Tee und Ingwerkekse. Sie schaute über eine Gruppe Palmen hinweg auf das Meer, dessen Geruch der Wind zu ihr herübertrug, und versank in ihre Gedanken.
Wenn sie Lukas Feller weiterhin treffen würde, das spürte sie, würde etwas Größeres, Verbindlicheres daraus werden. Wollte sie das? Oder war es nur ein Flirt mit dem Morbiden gewesen, der nun vorbei war? Noch nie hatte sie ein Mann so fasziniert wie er. Sie hatte Moritz wegen seines Genies bewundert, aber es war nichts Geheimnisvolles an ihm gewesen. Es reizte sie, Lukas Fellers Wesen zu ergründen, das dem ihren ähnlich zu sein schien. Und doch hatte er getötet. War es dieser Gedanke, der sie reizte? Die Seele eines Mörders zu ergründen? Was aber, wenn ihr nicht gefiel, was sie auf diesem Grund fand? Sollte sie ihren Ruf und ihre Stellung gefährden für einen Mann, den sie kaum kannte? Einen Häftling, einen Mörder? Immerhin war sie zweiundvierzig, ein Alter in dem einem nicht mehr jede Tür offenstand. Und sie hatte die Verantwortung für die geistige Erziehung der künftigen Führungsschicht der Gesellschaft, nachdem diese schon zu Hause keinen Schliff erhielt.
Nein, nicht für ihn, dachte Mathilde. Für sich. Um ihrem Leben, das abschnurrte wie ein gut geöltes Uhrwerk, eine neue Wendung zu geben. Denn im Grunde lebte sie nicht wesentlich anders als der Gefangene Lukas Feller. Sogar ihre Liebhaber hatte sie ordentlich eingefügt in ihr genormtes, farbloses Leben. Und überhaupt, wo würde sie hinkommen, wenn sie sich von Keusemann, Roth und Konsorten reglementieren ließe? Was würden sie ihr als nächstes verbieten?
So oft, wie sich der Himmel über der See aufhellte und wieder eintrübte, klärte und verfinsterte sich ihre Stimmung, schwankte Mathilde in ihren Beschlüssen.
Mathilde hatte nie zu jenen Frauen gehört, die sich wegen ihres Alleinseins minderwertig vorkommen. Im Gegenteil, sie betrachtete es als Privileg, nicht jeden ihrer Schritte mit einem Partner absprechen zu müssen. Doch wenn sie in diesen Tagen im Restaurant oder am Strand verliebte Paare sah, versetzte ihr der Anblick einen Stich. Das war neu. Auf einmal fühlte sie sich nicht mehr allein und unabhängig, sondern nur noch einsam. Sie verspürte den Drang, sich jemandem mitzuteilen. Nein, natürlich nicht irgend jemandem – es kam nur ein Mensch in Frage. Alles andere wäre ein fauler Kompromiß. Sie begann ein Urlaubstagebuch für Lukas zu schreiben. Über ihre Nächte schrieb sie nichts.
Am Abend vor der Abreise verbrannte sie die Blätter im Kamin der Hotelhalle, aus Furcht, er könnte zwischen den harmlosen Zeilen ihr heißes Verlangen nach ihm herauslesen.
Als sie nach zehn Tagen die windige Kanalinsel verließ und wieder nach Hause kam, war sie zu keiner Entscheidung gekommen.
Sie fand einen Brief von Lukas vor.
Liebste Mathilde,
ich spüre, daß zwischen uns mehr ist, als sein dürfte. Ich denke an Sie, wenn meine Einsamkeit am dunkelsten ist. Ich empfinde eine nie gekannte spirituelle Leidenschaft für Sie. Aber ich will Ihnen nicht schaden. Entscheiden Sie, was richtig ist. Bitte erlauben Sie mir, mich in meinen Träumen mit Ihnen zu verbinden. Ich umarme Sie, meine Geliebte. Ihr Lukas
In Situationen wie dieser wünschte sich Mathilde ganz besonders, Merle würde noch leben. Sie hätte gewußt, was zu tun oder zu lassen war. Sie hatte immer die richtigen Entscheidungen getroffen. »Mit dem Niedergang des Bürgertums werden auch die Hüte verschwinden«, hatte Merle in den späten Achtzigern erkannt und ihre Fabrikation eingestellt, genau zum richtigen Zeitpunkt. Zum Thema Moritz hatte sie nur gesagt: »Du mußt abwägen, ob du mit ihm mehr lachst oder weinst. Wenn du mehr weinst, solltest du gehen . « Keine Moralpredigt, keine Vorhaltungen wegen Ehebruchs oder acht verschwendeter Jahre.
Ersatzweise zog Mathilde nun eine Tarotkarte: Der Turm. Erschütterungen. Sicherheiten der Vergangenheit geraten ins Wanken.
Allerdings taten sie das. In monumentalem Ausmaß. Sie stand kurz davor, entweder ihren Job zu verlieren oder ihre Selbstachtung. Die Karte traf erstaunlich hellsichtig ihre Situation, aber eine Entscheidungshilfe war sie nicht.
Sie räumte den Koffer aus. Sie fror. Es dauerte, bis die Heizung auf Touren kam. Schon wieder Herbst. Ich werde alt. Alte Leuten klagen immer, wie schnell die Zeit verrinnt. Am Telefon blinkte das rote Lämpchen des Anrufbeantworters, und das Display
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