Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
die seit Merles Tod ungehindert ins Kraut geschossen war.
»Die Hecke hat meine Großmutter gepflanzt«, stellte Mathilde richtig und ging ins Haus.
Franziska saß am Küchentisch, der rustikal, aber liebevoll gedeckt war. Sie war gerade dabei, zwei gelbe Papierservietten zu Schmetterlingen zu falten. Franziska faltete Servietten! Was passierte mit der Welt? Prompt fielen die Schmetterlinge wieder auseinander. Mathilde erwartete einen saftigen Fluch, aber Franziska legte sie nur mit einem Seufzer beiseite.
Nachdem sich ihre Mutter nach ihrer Reise erkundigt hatte, fragte sie: »Was ist nun eigentlich mit der Schule?«
»Wahrscheinlich werde ich zum Jahresende gehen.«
»Weißt du, Mathilde, ich glaube wirklich, daß du eine gute Lehrerin bist.«
»Danke«, antwortete Mathilde mißtrauisch.
»Aber ich bin auch der Meinung, daß du dein Talent an dieses elitäre Gesocks verschwendest. Diese Schüler sind doch keine echte Herausforderung.«
Hatte sie eine Ahnung, wie anstrengend wohlstandsverwahrloste Jugendliche sein konnten.
»Du solltest da unterrichten, wo Leute wie du wirklich gebraucht werden.«
»Am besten an einer Gesamtschule in einem sozialen Brennpunkt«, spottete Mathilde und fügte hinzu: »Da kann ich ja gleich im Gefängnis unterrichten.«
Mit dieser Steilvorlage hoffte sie auf eine entsprechende Reaktion, um ihre sensationelle Neuigkeit elegant plazieren zu können. Aber Franziska ging nicht darauf ein, und Mathilde wußte nicht, warum sie nicht einfach sagte: »Lukas ist draußen.«
»Ich meine das ernst«, beharrte Franziska. »Es ist wichtig, daß wir eine sinnvolle Aufgabe im Leben erfüllen. Nur das zählt, wenn wir eines Tages vor dem Herrn stehen.«
Mathilde sackte der Unterkiefer weg. »Wenn wir vor wem stehen?!«
»Vor Gott, dem Herrn.«
Mathilde sah ihre Mutter mit einem langen, sezierenden Blick an, dann fragte sie: »Was ist der da draußen? Ein Zeuge Jehovas?«
»Quatsch!« Doch Franziskas kardinalsrote Wangen sagten Mathilde, daß sie auf der richtigen Spur war.
»Ist er Guru einer Designersekte? Oder gehört er zu einer dieser Weltuntergangsreligionen …«
»Also, so kann man das jetzt nicht ausdrücken«, protestierte Franziska.
Mathilde schloß für Sekunden die Augen. Typisch Franziska. Ein Blatt im Wind des Zeitgeistes. Wenn sich schon Mathildes Schülerinnen neuerdings mit Kreuzen und Rosenkränzen behängten, durfte Franziska natürlich nicht fehlen.
»Weiß er, daß du schon alle Religionen durch hast?«
Franziska wandte sich ab, zündete sich einen Zigarillo an und sagte todernst: »Über den Glauben macht man keine Witze.«
»Och, bitte, Franziska! Werde wieder Buddhistin oder so was. Mit den geschnitzten Götterfigürchen und den Räucherstäbchen hast du mir viel besser gefallen.«
»Bleib zum Essen, dann kannst du Erich besser kennenlernen«, antwortete ihre Mutter.
»Was gibt es?« fragte Mathilde in der Hoffnung auf eine brauchbare Anregung.
»Gemüseeintopf.«
»Ich muß nach Hause.«
»Dein Mann wartet bestimmt schon auf sein Abendessen.«
»Ganz genau«, bestätigte Mathilde.
»Sag ich doch«, meinte Franziska gelassen und fügte hämisch hinzu: »Gibt’s Currywurst?«
Mathilde ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Woher weißt du es?«
»Das weiß doch jeder, daß der seit einer Woche draußen ist. Es stand doch in allen Zeitungen.«
Auf dem Rückweg hatte Mathilde Tränen in den Augen. Seit einer Woche. Warum hatte er sie nicht angerufen? Warum war er nicht nachgekommen? Während sie mit überhöhter Geschwindigkeit über die Göttinger Chaussee preschte, konnte sie nicht verhindern, daß sich Bilder der abgeschmacktesten Sorte zwischen ihre Wut schlichen: Sie sah sich einsam an der Küste entlangspazieren, eine Gestalt nähert sich von ferne, sie traut ihren Augen nicht, er kommt auf sie zu, sie sehen sich an, fallen sich in die Arme …
Ärgerlich verscheuchte sie die Pilcher-Phantasien. Nein, dachte sie, statt dessen steht er verlottert wie ein Clochard vor der Tür und verlangt nach einem Bad! Wo war er die letzte Woche gewesen? Bei dieser Claudine? In einem Hotel? Einem Bordell?
Mathilde, beruhige dich. Das Wichtigste ist doch jetzt: Er ist draußen. Aber wieso überhaupt? Eine lebenslange Freiheitsstrafe kann frühestens nach fünfzehn Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden, Paragraph siebenundfünfzig Strafgesetzbuch, sie hatte es nachgelesen. Frühestens fünfzehn Jahre, da gab es ihres Wissens keine Ausnahmen. War denn auf
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