Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Trost für naive Gemüter. Ihr war der Gedanke an ein mögliches Danach eher unheimlich. Nein, am Ende menschlichen Lebens stand ein großes, tröstliches Nichts. Wer sind wir schon, um etwas anderes erwarten zu können? Zugegeben, sie hatte an Merles Grab mit ihrer Großmutter geredet, aber aus rein therapeutischen Gründen, das hatte sie tief in ihrem Inneren immer gewußt. In diesen Tagen machte Mathilde die Erfahrung, daß der Tod den Blickwinkel auf viele Dinge ändert.
Nicht die sichtbare und vergängliche Materie ist das Reale, Wirkliche, Wahre, denn die Materie bestünde ohne den Geist überhaupt nicht, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre. Das hatte auf einer der Beileidskarten gestanden, und angeblich stammte das Zitat von Max Planck – immerhin.
Die Beerdigung fand am 17. Juni statt, an einem strahlenden Sommertag. Da Franziska schon in den sechziger Jahren aus der Kirche ausgetreten war, lauschte die Trauergemeinde nun einem frömmelnden Laienprediger, den der verzweifelte Erich Kunze empfohlen hatte. Mathilde war überrascht, wie viele Leute gekommen waren. An die hundert Ex-Revolutionäre, heute angehende Pensionäre und rüstige Rentner, defilierten am Grab vorbei, drückten Mathilde die Hand und schielten verstohlen nach Lukas, der hinter ihr stand. Man sah stadtbekannte Gesichter, Rechtsanwälte, Ärzte, Orchestermusiker, Landespolitiker, Stadträte und natürlich auch ein paar Künstler.
»Das ganze alte Sozzenpack, die Reihen dicht geschlossen«, kommentierte Mathilde den Auflauf saturierter Genossen und Genossinnen, die sich umarmend und rückenreibend begrüßten. Sie gab sich Mühe, nicht zu grinsen. Obgleich es durch den Hut mit der breiten, tief ins Gesicht fallenden Krempe womöglich nicht einmal aufgefallen wäre. Diese Pillen, die Lukas ihr besorgt hatte, bewirkten, daß sie die Welt wie gefiltert erlebte. Eine Art Weichzeichner legte sich über alles, nicht einmal der Schmerz drang in seiner ganzen Schärfe zu ihr durch. Es war beeindruckend, wie einfach man sich einen Panzer zulegen konnte. Ein Hoch auf die Pharmaindustrie, dachte Mathilde, und was wie ein unterdrücktes Schluchzen klang, war in Wirklichkeit ein Kichern. Lukas verstärkte den Druck auf ihre Hand, die er die ganze Zeit über hielt. Schwer zu sagen, ob aus Teilnahme oder um sie zu ermahnen, die Fassung zu wahren. Zu ihrer Linken stand Leona. Auch sie musterte die eine oder andere Gestalt mit einem Schmunzeln.
Mathilde überlegte, ob ihr Erzeuger wohl anwesend war. Vielleicht inkognito, der feige Hund? Sie hoffte, eine Begegnung mit ihm würde ihr erspart bleiben.
Brigitte und Ingolf Keusemann waren unter den ersten Kondolanten. Danach gingen sie eine ganze Weile ziellos zwischen den Gräbern auf und ab, als warteten sie auf etwas. Nachdem sich die Menge zerstreut hatte, und Mathilde, Lukas und Leona den Rückweg antraten, schleuste sich Brigitte Keusemann zwischen den Gräbern zu ihnen hindurch. Erneut versicherte sie Mathilde, wie leid ihr das alles täte. Auch das mit ihrer Kündigung. Dann sagte Brigitte Keusemann zu Mathilde: »Ich weiß, es ist absolut nicht der passende Moment, aber sonst treffen wir uns vielleicht nicht mehr …«
»Brigitte«, unterbrach Ingolf mahnend, aber ganz offensichtlich war er heute nicht Herr der Lage.
»Nun laß mich doch«, zischte Brigitte, und Ingolf Keusemann machte ein Gesicht, als litte er an akuten Zahnschmerzen.
»Was ist denn?« fragte Mathilde.
»Nun, ich wollte Ihnen nur sagen, also … falls Sie eine Stelle woanders, ich meine in einer anderen Stadt, annehmen und Ihre Wohnung verkaufen wollen … Wir, Ingolf und ich, wir hätten da großes Interesse. Das wollte ich Ihnen nur sagen.«
»Brigitte, nun komm!« Ingolf zog seine Frau am Ellbogen, aber die widersetzte sich, indem sie seine Hand abschüttelte. Nun, da sie sich schon so weit vorgewagt hatte, wollte sie auch noch Mathildes Antwort abwarten.
Mathilde hörte Leona hinter sich scharf ausatmen. Als sie gerade dazu ansetzte, dieser Person zu antworten, nahm Lukas sie fest bei der Schulter und drängte sie beinahe grob zur Seite. »Mathilde, geh doch schon mit Leona voraus«, sagte er in einem ruhigen und doch so nachdrücklichen Ton, daß Mathilde nicht widersprach. Als sei sie nur dazu da, seine Befehle zu empfangen, gehorchte auch Leona, hakte Mathilde unter und zog sie mit sich. Doch kaum wähnte sie sich und Mathilde außer Hörweite der Keusemanns, schimpfte sie los: »Das ist doch der
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