Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Sind Sie die Tochter von Franziska Degen?«
»Ja. Mathilde Degen. Was ist passiert? Wo ist meine Mutter?«
»Wir müssen leider annehmen, daß sich Ihre Mutter in dem Gartenhaus dort drüben aufgehalten hat. Aus Gründen, die wir noch nicht kennen, gab es um kurz vor zehn eine Explosion.«
»Eine Explosion«, wiederholte Mathilde und stierte verständnislos auf die qualmenden Reste des Ateliers. »Sind Sie sicher, daß …«
»Wollen wir uns ins Haus setzen«, fragte die junge Frau und griff behutsam nach Mathildes Ellbogen.
Mathilde, die tatsächlich spürte, daß ihre Knie nachzugeben drohten, nickte. »Ich habe einen Schlüssel.«
»Die Tür ist nicht abgeschlossen«, sagte die Polizistin. Offenbar waren sie schon drinnen gewesen.
Im Haus war es kalt. Sie gingen ins Wohnzimmer, und Mathilde betrachtete das Interieur auf einmal mit fremdem Blick: schäbige Tapeten, billige Möbel, die mit allerlei Kitsch beladen waren, und sonderbare Bilder an den Wänden. Was mußten diese Polizisten von einer Frau denken, die so lebte? Mathilde nahm ihren Stammplatz im Sessel ein. Die Polizistin setzte sich auf das Sofa. Franziskas Platz, kam es Mathilde in den Sinn.
»Es wurde ein menschlicher Körper gefunden. Natürlich kann man erst nach einer genauen Analyse völlig sicher sein, aber …«
»Ja«, sagte Mathilde und hörte ihrer eigenen Stimme verwundert zu. »Wer sollte es sonst sein – in ihrem Atelier? Sonst wäre sie ja hier.« Sie deutete in einer hilflosen Geste auf das Sofa. Dann schluckte sie und griff sich an die Kehle, die sich plötzlich anfühlte, als hätte sie Sand gegessen. Der Beamte ging in die Küche und brachte Mathilde ein Glas Wasser. Draußen trugen zwei Männer eine Blechwanne an die Brandstelle.
Mathilde leerte das Glas in einem Zug aus.
»Hatte das Gartenhäuschen eine Gasleitung?« fragte Jan Römer.
»Nein. Es gab einen Gasofen. Mit einer Flasche, wie in einem Wohnwagen. War es eine Gasexplosion?«
»Die Experten werden das prüfen, aber es sieht danach aus. Sie war bestimmt sofort tot«, meinte die Polizistin.
»Ja?« fragte Mathilde. Sie fror entsetzlich, und mit einemmal setzten sich die Schnecken auf dem Yin-und-Yang-Bild über dem Sofa kreisend in Bewegung.
»Die Katzen«, fiel Mathilde ein, »Frau Huber muß sich um die Katzen kümmern.«
Die Antwort der Polizistin hörte sie nicht mehr, denn etwas Großes, Schwarzes kam auf sie zu, hüllte sie ein und riß sie mit sich.
Nach Merles Tod hatte Mathilde geglaubt, es könne für sie keinen schlimmeren Verlust geben. Tatsächlich dachte sie in den Monaten danach, als die Streitereien mit Franziska ihrem Höhepunkt zustrebten, manchmal insgeheim, es hätte doch besser Franziska treffen sollen. Dafür schämte sie sich jetzt.
Seit ihrer Jugend war es Mathilde gewesen, die die Beschützerrolle übernommen hatte. Doch nun wurde ihr bewußt, daß sie selbst niemanden mehr hatte, bei dem sie im Notfall unterkriechen konnte. Trotz aller Querelen und trotz Franziskas Unzulänglichkeiten war diese Gewißheit immer vorhanden gewesen, unausgesprochen zwar, und nicht einmal in Gedanken erwogen, aber dennoch in einem tiefen, instinkthaften Wissen verankert. Zudem führte ihr Franziskas Tod erneut den Verlust von Merle vor Augen, als würde eine gerade verschorfte Wunde wieder aufgerissen.
Nun war sie allein auf der Welt. Mutterseelenallein. Lukas war eine Hilfe, was die organisatorischen Dinge betraf, aber Mathilde hatte das Gefühl, daß er ihre Empfindungen nicht nachvollziehen konnte. Für Lukas schien der Tod ein Verwaltungsakt zu sein, etwas, das sich organisieren ließ. Mathilde mußte an die Trauerfeier im Celler Krematorium denken. Hatte ihn der Tod seiner eigenen Mutter nicht ebenso kaltgelassen? Bis jetzt hatte sie nie darüber nachgedacht, weil der anschließende Heiratsantrag sämtliche Gedanken an den Anlaß ihres Treffens verdrängt hatte.
Sie ließ Franziska im Familiengrab bestatten, neben Merle und deren vor über vierzig Jahren verstorbenem Ehemann Hubert. Zu Lebzeiten hätten vermutlich weder Merle noch Franziska Gefallen an diesem Arrangement gefunden. Ob sich die drei genug zu sagen hatten für die Ewigkeit? Wahrscheinlich würden sich Franziska und Merle während des ersten Jahrhunderts gründlich streiten. Aber danach?
Bisher war Mathilde der Überzeugung gewesen, daß nach dem Tod nichts zu erwarten sei. Theorien vom Weiterleben der unsterblichen Seele in anderer Daseinsform hielt sie für Augenwischerei – ein
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