Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
gegeben hatte. Ihr Leben war ein einziger Seiltanz. Nur nicht nach unten sehen. Statt dessen sah sie ihm in die Augen und forschte darin vergeblich nach einem winzigen Zeichen von Demut.
In den folgenden Tagen versuchte Mathilde, den Gedanken »Ich bin arbeitslos« zu verdrängen und sich einzureden: »Ich habe Ferien« . Aber diesmal war es anders. Früher hatte sie die ersten Ferientage immer genutzt, um durch die Geschäfte zu bummeln und sich für den Sommer und die anstehende Urlaubsreise einzukleiden. Dazu bestand nun kein Anlaß mehr, und es fehlten die Mittel. Neue Kleidung war gestrichen, und Lebensmittel wurden ab sofort nicht länger bei Kaufhof, Mövenpick, Schlemmermeyer oder in der Markthalle gekauft sondern in gewöhnlichen Supermärkten.
Zum Glück blieb wenig Zeit, um ihr Selbstmitleid zu pflegen. Im Ricklinger Haus mußte Ordnung gemacht werden, denn schließlich würde sie bald dort einziehen, wenn sie nicht vorher noch eine Stelle in einer anderen Stadt fand. Aber daran glaubte Mathilde immer weniger. Die Weichen für das neue Schuljahr waren überall schon gestellt, der Zug war abgefahren. Ohne sie.
Obwohl sie den Geschmack ihrer Mutter in Sachen Möbel und Dekor nach wie vor nicht teilte, fiel es ihr schwer, den vielen Plunder vom wenigen Erhaltenswerten zu trennen und wegzuwerfen. Ihr war, als wüßten die Dinge um ihr Schicksal und das ihrer früheren Besitzerin. Sei nicht närrisch, sagte sich Mathilde und kam sich dennoch wie eine Schnüfflerin vor, die ihre Nase in Dinge steckte, die nicht für sie bestimmt waren. Sie ließ vor dem Grundstück einen Container aufstellen, in den sie die Trümmer des Ateliers warf.
Es kostete sie große Überwindung, die Unglücksstelle zu betreten. Bei jedem angekohlten Brett, das sie aufhob, befiel sie die Furcht, darunter einen grausigen Fund zu machen. Aber die Ermittler der Staatsanwaltschaft hatten gründlich gearbeitet.
Lukas ließ sich nicht blicken und rief auch nicht an. Sein Mobiltelefon war ausgeschaltet und auch die Mailbox deaktiviert. Wo hielt er sich auf? Etwa im Haus seiner Mutter, das er angeblich noch immer nicht verkauft hatte? Wanderte er wieder in den Wäldern herum, jetzt, da sich der Sommer von seiner besten Seite zeigte? Sein Schweigen beunruhigte Mathilde.
Andererseits kam ihr die Atempause auch gelegen. Zwei Wochen lang war sie damit beschäftigt, das Haus zu entrümpeln, ein paar Reparaturen in die Wege zu leiten, die Wände von den alten Tapeten zu befreien und neu zu streichen. Wehmütig dachte sie daran, wie sie vor fünf Jahren ihre Wohnung im Zooviertel stolz und liebevoll renoviert hatte. Damals war sie voller Enthusiasmus und Ideen gewesen, jetzt arbeitete sie verbissen und uninspiriert drauflos. Als jedoch alles fertig war, als die Zimmer in Weiß aufzuatmen schienen und nach frischer Farbe rochen, überkam sie doch noch ein klein wenig Aufbruchsstimmung. Wenn das alles vorbei ist, tröstete sie sich, dann kann es nur noch aufwärtsgehen. Dann habe ich nichts mehr zu verlieren.
»Hast du schon gehört, wer deine Stelle bekommen wird«, fragte Leona.
»Nein.«
»Florian. Dein Florian.«
»Oh«, erwiderte Mathilde nur und widmete sich intensiv dem Einwickeln einer Champagnerflöte in Zeitungspapier. Die brauchte sie gar nicht wieder auszupacken, realisierte sie.
»Was macht eigentlich Jens, den habe ich schon länger nicht mehr gesehen«, erkundigte sich Mathilde nach einer Weile des konzentrierten Einpackens und Schweigens.
»Wir sind übereingekommen, daß uns eine Beziehungspause nicht schaden würde.«
»Oh«, sagte Mathilde erneut, und Leona schlug vor: »Ich koche uns mal Kaffee, bevor die Kerle ihn wegpacken.«
Mathilde nickte dankbar.
»Hat Lukas sich inzwischen gemeldet?« wollte Leona später wissen, als sie in der Küche standen und Kaffee tranken.
»Nein. Ich weiß nicht mal, wo er ist. Es gefällt ihm offenbar, mich zappeln zu lassen.«
»Oder er drückt sich vor der Arbeit hier.«
»Ja, typisch«, ereiferte sich Mathilde. »Ich kann jetzt sein Zeug mitschleppen und dafür auch noch bezahlen. Aber ich werde ihm bei nächster Gelegenheit alles vor die Tür werfen – wo immer diese auch sein mag!«
»Was ist mit den vielen Hüten?« unterbrach einer der Umzugshelfer.
»Die müssen natürlich mit. Nur das Regal bleibt hier«, antwortete Mathilde.
Einige Dinge überließ sie den Keusemanns gegen Entgelt: Die Hutregale im Schlafzimmer, die Brigitte »kultig« fand, die Regale der Bibliothek, die
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