Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
geben. Ich war acht Jahre alt. Aber ich habe nicht geheult. Erst später, in meinem Zimmer, wo mein Vater es nicht sehen konnte … Ein Vogel kreischte und flatterte auf. Mathilde erschrak. Sie hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Beklommen schaute sie in die Fenster auf der Rückseite des Hauses. Doch niemand zeigte sich, alles blieb still.
Auf der Terrasse standen zwei ehemals weiße, nun schmutziggraue Plastikstühle. Mathilde spähte durch die Scheibe der Terrassentür, indem sie ihre Augen mit den Händen abschirmte. Unerwartet gab die Tür mit einem Scharren in den Angeln nach, und Mathilde stolperte in die gute Stube der Fellers.
Auf einem erbsengrünen, abgetretenen Teppichboden standen eine gleichfarbige Couch und zwei Sessel vor einer langen Schrankwand aus Eichenfurnier. Die Wände zierte eine Siebziger-Jahre-Tapete mit riesigen braunorangefarbenen Ornamenten. Auf einer mehrstöckigen Blumenbank vergammelten Topfpflanzen. Die Luft roch abgestanden. Was für eine Tristesse. Nein, daß niemand dieses Haus kaufen wollte, wunderte sie nicht. Irgendwo knarrte eine Diele.
»Lukas?«
Stille. Mathilde ging weiter. Anscheinend hatte Lukas damit begonnen, das Haus zu entrümpeln. Die geräumige Küche war leer bis auf die Spüle. Kabel hingen wie Spinnenbeine aus der Wand, die bis auf halbe Höhe blaßgelb gefliest war. Außer einer Abstellkammer und einer Toilette gab es im Erdgeschoß keine weiteren Räume. Mathilde stieg die Treppe hinauf ins Obergeschoß. Ein löchriger Kokosläufer dämpfte ihre Schritte. Das erste Zimmer beherbergte noch einen Schrank aus vergilbtem Schleiflack und ein französisches Eisenbett ohne Matratze. An den Wänden hingen keine Bilder mehr, nur ein paar rechteckige Schmutzränder waren auf der Tapete mit dem ausgeblichenen Blumenmuster zu sehen. Sie dachte an Lukas’ Mutter. Er hatte wenig von ihr gesprochen, er schien sie zu verachten. Was Mathilde über die Frau wußte, stammte hauptsächlich aus der Traueransprache der Pastorin und dem Zeitungsartikel. Bei ihrem Tod war sie vierundsiebzig Jahre alt gewesen. Zeitlich war sie zwischen Merle und Franziska geboren. Eine bedauernswerte Frauengeneration, fand Mathilde. Aufgewachsen in düsterster Nazizeit, und als der Geist der Achtundsechziger über das Land wehte, da war Lukas’ Mutter schon längst Hausfrau und Mutter, etabliert und angepaßt, verzweifelt darum bemüht, ihr Glück im Schoß der Familie zu finden. Und wenn das nicht gelang, mußte wenigstens der Schein gewahrt werden. Mathilde stellte sich vor, wie Frau Feller heimlich das Geld aus den Rabattmarkenheften gehortet und dabei von ihrer Flucht in ein eigenständiges Leben geträumt hatte. Aber hatten die Hausfrauen der fünfziger und sechziger Jahre überhaupt solche Träume gehabt? Zu Zeiten, in denen eine alleinstehende Frau als minderwertig galt, wohl eher nicht. Nein, sie hatte sich vermutlich etwas vorgelogen, hatte alles Negative unter den Teppich gekehrt, ausgeblendet, verleugnet. Bis der Tod ihres Mannes die Dinge verändert und sie in den ehrbaren Stand einer Witwe versetzt hatte. War sie danach aufgeblüht oder in der Opferrolle geblieben? Hatte es nach Lukas’ Vater andere Männer in ihrem Leben gegeben? Lukas hatte nie dergleichen erwähnt. Vermutlich hatte sie für alle Zeiten genug von Männern gehabt. Mathilde würde es nicht mehr erfahren. Sie ging weiter.
Das Zimmer am Ende des Flurs war ein kleiner Raum mit einer Dachgaube. Darin standen ein leerer Kleiderschrank aus Holzimitat, ein Regal mit verstaubten Matchboxautos und ein weiß lackiertes Kinderbett. Ein Metallgitter war nachträglich von innen vor der Gaube angebracht worden. Auf der Tapete hoppelten niedliche Häschen. Was waren das für Eltern, fragte sich Mathilde, die dem einen Kind Hoppelhäschen an die Wände tapezierten und das andere Kind zwangen, die echten Hasen zu schlachten?
Eine Spieluhr in Form eines Harlekins hing an der Querstrebe des Bettgitters. Mathilde zog an der Schnur. Guten Abend, gute Nacht. Sie hatte dieses Schlaflied schon immer gruselig gefunden, vor allem die Textstelle Morgen früh, wenn Gott will … Was, wenn er nicht wollte? Ein Schauder lief ihr den Rücken hinab, und sie verließ rasch den Raum.
Lukas’ Zimmer war unschwer an den schwarz gestrichenen Wänden zu erkennen. Chucks Zimmer, dachte sie eingedenk ihrer Wondratschek-Phase in den späten Siebzigern und mußte unwillkürlich lächeln. Sogar den Türstock hatte er schwarz lackiert. Ein
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