Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Nur wenn sie diese absolute Dunkelheit gar nicht mehr aushielt, schaltete sie das Lämpchen an. Ein paar kostbare Sekunden, um auf die Uhr zu sehen und um nach einem Werkzeug zu suchen, mit dem sie die Wand zum Nachbarhaus behauen konnte. Aber in diesem Keller gab es nichts, mit dem man dem Stein nachhaltig zu Leibe rücken konnte, nicht mal einen Nagel. Ihr blieb nur der Haustürschlüssel. Mit dem kratzte sie ein Loch in den Putz. Es gelang ihr, bis auf die Ziegel vorzudringen. Danach ging es bedeutend langsamer voran. Sie hoffte inständig, daß ihr Orientierungssinn sie nicht täuschte, und sie sinnlos an einer der Außenmauern herumscharrte. Ihr Körper brannte vor Durst. Erneut öffnete sie sämtliche Flaschen des Regals und roch daran. Schnaps, nichts als Schnaps. Wer würde auch mit Wasser gefüllte Schnapsflaschen im Keller lagern? Sie aß mit den Fingern aus einem Glas Erdbeermarmelade, aber der Zucker machte den Durst nur schlimmer.
Weitermachen! Du mußt durch diese Wand! Doch ihre Finger waren verkrampft, die Arme schmerzten, sie merkte, wie ihre Kräfte nachließen. Verzweifelt schlug sie einer eckigen Schnapsflasche an der Treppenkante den Hals ab und benutzte diese als Kratzwerkzeug. Damit kam sie besser zurecht. Der Kellerraum roch nun penetrant nach Schnaps, aber es gab Schlimmeres. Irgendwann, in den ersten Stunden, hatte sie unter die Treppe gepinkelt und dabei gedacht: Das verzeihe ich dir nie im Leben, Lukas Feller!
Aber wie lange würde ihr Leben noch dauern? Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob das Nachbarhaus einen bewohnten Eindruck gemacht hatte. Würde jemand ihre Rufe hören? In den ersten Stunden ihrer Gefangenschaft hatte sie viel wertvolle Kraft mit Hilfegeschrei vertan. Verbissen kratzte sie weiter. Aber irgendwann konnte sie vor Erschöpfung die Arme nicht mehr heben. Entmutigt ließ sie sich auf den Boden sinken und setzte die Schnapsflasche an. Der Fusel brannte schon gar nicht mehr. Sie behielt die Flüssigkeit so lange wie möglich im Mund. Immerhin bestand das Zeug ja zum größten Teil aus Wasser, beruhigte sie sich. Die Flasche war leer. Das konnte unmöglich alles sie getrunken haben. Und immer noch quälte sie ein rasender Durst. Sie knipste die Taschenlampe an. Für einen kostbaren Moment glühte sie schwach auf, um dann endgültig zu erlöschen. Mathilde warf sie wütend in das Dunkel, hörte das Klirren, als sie mit einer der Flaschen im Regal kollidierte und dann zu Boden polterte. Sie verspürte das Bedürfnis zu weinen.
Reiß dich zusammen. Weinen bedeutet unnötigen Flüssigkeitsverlust! Sie rollte sich auf dem Fußboden zusammen und legte den Kopf auf den angewinkelten Arm. Gefangen im Dunkeln. Wie zum Teufel hatte sie nur in diese Lage geraten können? Weil du dich mit einem Verbrecher eingelassen hast, du naive Gans. War das hier seine Rache, weil sie ihn werggeschickt hatte? War sie hier, um zu sterben?
Ihre Chancen standen schlecht. Wer würde nach ihr suchen, wer würde sie vermissen? Kein Mensch. Höchstens Leona. Die hatte bestimmt schon einige Male bei ihr angerufen. Aber es konnten Tage vergehen, ehe Leona etwas unternahm – wenn überhaupt. Sie war Lukas auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Ihre Verzweiflung wuchs nun mit jeder Minute. Sie begann zu verstehen, was Todesangst ist.
»Lukas, es ist genug, laß mich raus«, rief sie mit flehender Stimme ins Dunkel hinein. Die Antwort war Stille.
Ihr wurde abwechselnd kalt und heiß. Sie hörte ihren Herzschlag, fühlte, wie der Schnaps ihren Stoffwechsel sabotierte. Ihr Organismus, jenes wunderbare, komplizierte System, würde zusammenbrechen, der Alkohol würde ihre Wasserreserven austrocknen, bald würde der Flüssigkeitsmangel ihre Nieren lahmlegen, ihre Leber vergiften, Zelle für Zelle würde sie hier, im Keller dieses Reihenhauses, langsam mumifizieren.
Wenn Lukas als Kind Fleisch aß, kaute er lange darauf herum. Er mochte die Konsistenz und den Geschmack des Saftes auf seiner Zunge. Dann aber, wenn der Brocken zerkaut und trocken war, spuckte er ihn aus und legte ihn angeekelt an den Rand des Tellers. Genauso ging es ihm mit Frauen. Er kannte die Begierde, aber sie hatte nichts zu tun mit dem Objekt, das ihn nach dem Genuß regelmäßig anzuwidern begann. Leider verstanden das die Frauen nicht. Sie wollten Zärtlichkeiten, Liebesschwüre, Versprechen. Dafür erniedrigten sie sich. So wie sich seine Mutter für das bißchen Sicherheit, das sein Vater ihr bot, erniedrigt hatte. Diese
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