Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
weniger eindeutig.
Als die Fotos geordnet vor mir auf dem Tisch lagen, konnte ich die Blicke rasch darübergleiten lassen und sie wie einen erotischen Kurzfilm betrachten, einen Film von zwei, drei Minuten, über das Liebesleben eines gewissen Arie Even, ein randvolles Leben, zweifellos, wie hatte er währenddessen noch andere Dinge tun können, und wer weiß, ob ihm noch Kraft geblieben war, aber er hatte noch Kraft, das konnte ich bezeugen, ich, die versuchte, die letzten in dieser Reihe zu verdrängen. Kein Wunder, daß es so schwer war, ihn zu begeistern, vermutlich hatte er seinen Vorrat an Leidenschaft schon längst verbraucht, außer einem Selbstmord beim Ficken hatte er alles ausprobiert, und vielleicht selbst das, wer konnte das schon wissen, und eigentlich müßte ich meinen Hunger einpacken und abhauen, denn er würde ihn nicht stillen, Hunger und Sattsein können sich nicht zur gleichen Mahlzeit setzen, und plötzlich packte mich Ekel vor diesen Fotos, ich konnte sie nicht mehr ertragen, ich begann sie schnell in die Schachtel zurückzulegen, vom Ende zum Anfang, begrub erst sein Alter und dann seine Jugend, und als ich fast fertig war, entdeckte ich plötzlich noch ein Foto, das mir vorhin entgangen war, das Bild einer hübschen jungen, zur Abwechslung mal angezogenen Frau vor einem leeren Teller, Gabel und Messer in den Händen, die Haare zu einem Zopf geflochten, mit einem zarten Gesicht, und an ihrem Ringfinger prangte ein schmaler Ehering, und sie sah zufrieden auf den Teller.
Angespannt betrachtete ich das Foto, obwohl ich es sehr gut kannte, Dutzende Male hatte ich es gesehen, doch nie hatte ich mich so sehr für sie interessiert wie jetzt, für meine junge hübsche Mutter mit dem ernsten Gesicht, als ginge ihr gerade ein wichtiger Gedanke durch den Kopf, wichtig und spannend, aber nicht schicksalhaft, vielleicht hatte der Gedanke etwas mit dem leeren Teller zu tun, und sofort warf ich auch dieses Foto in meinen Koffer, wo es wie ein Blatt zwischen die schwarzen Wäschestücke sank, ich tat es, obwohl ich einen Abzug in meinem Album hatte, aber es war das Bild von ihr, das ich am meisten liebte, und ich wollte es nicht da lassen, in seiner ekelhaften Schachtel, zwischen seinen Huren, was hatte sie mit ihnen zu tun, wirklich, was hatte sie mit ihnen zu tun, wie konnte ich das erfahren, die Vergangenheit war zugedeckt, eine große Plane war über sie gebreitet, vielleicht wußte sie es ja selbst nicht, wie sollte ich es dann wissen?
Ich dachte an meine Tochter, die Tochter, die ich einmal haben würde, was würde sie schon über mich wissen, und mir war klar, daß auch sie in dieser Schachtel wühlen und nach Fotos von mir suchen würde, denn er würde uns auf ewig umkreisen, charmant und verflucht, und wie ein Magnet die Herzen an sich ziehen, und ich wollte gerne einen Zettel für sie in seine Schachtel legen, meine Tochter, wollte ich ihr schreiben, auch wenn du dein Gewicht auf meines lädst, bleibt doch die Luft stickig, scharf wie ein Krummschwert, aber statt dessen zog ich sorgfältig alle Gummis über die Schachtel und machte das Licht aus. Ich ging durch die dunkle Wohnung, von einem Zimmer zum anderen, zog da und dort eine Schublade auf, doch nichts interessierte mich, weder seine Bankauszüge noch die Beileidstelegramme, nicht seine Papiere und die Dokumente auf französisch, das alles war unbedeutend im Vergleich zu dem, was ich bereits gesehen hatte, und wieder setzte ich mich auf den Koffer, der mir bequemer war als alle Sessel, und dachte, das ist der richtige Zeitpunkt zum Weggehen, dieser Mann ist zu verdorben für dich, so wie es nicht ratsam war, in einer Mülltonne zu leben, war es auch nicht ratsam, in seinem Bett zu liegen, und ich ging ins Schlafzimmer und blickte auf das breite Bett, aber er war nicht drin, das Bett war leer wie der Teller meiner Mutter auf dem Foto.
Erst glaubte ich nicht richtig zu sehen, denn er und die Dunkelheit hatten fast die gleiche Farbe, aber als ich näher trat und mit der Hand über die weichen Decken strich, fühlte ich keinen Körper, und ich dachte, vielleicht hat er sich in Luft aufgelöst, vielleicht ist er zusammengeschrumpft, vielleicht ist sein ganzer Körper vergangen, wie eine Erektion, die vergeht, und hat nur eine Schachtel mit Bildern zurückgelassen statt Kinder, und all seine fotografierten Frauen, jene, die noch am Leben sind, werden an seinem offenen Grab den Kaddisch sagen, und ich empfand Erleichterung, als ich das dachte,
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