Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
erbarmungslose Hand um ihr Herz, ihre Kehle.
Gerade, als sie noch etwas sagen wollte, irgendetwas, das die Situation vielleicht doch noch rettete, griff Julian nach seinem Glas. Er leerte es in einem Zug und stand dann auf, um ohne jedes weitere Wort weg zu gehen, als wäre es nicht seine Mutter, sondern irgendeine fremde Frau, die er in der Lounge zurück ließ.
Verena sah ihm nach, wie er ohne jede Eile, groß und schlank, die dunkle Haarsträhne in der Stirn wie eh und je, davon schlenderte und sich kein einziges Mal mehr umdrehte.
Was sie in diesem Augenblick bewegte, ließ sich nicht in Worte fassen.
Die nicht so edlen, möglicherweise sogar bösartigen Gefühle und Absichten verbarg der Mensch normalerweise und suchte dafür auch nicht nach Worten, nicht einmal in den tiefsten Abgründen seiner Seele. Als Verena anfing darüber nachzudenken, ob es besser wäre, Julian eine kurze Zeit unbehelligt zu lassen, um ihn dann erneut anzurufen und sich mit ihm zu verabreden, gestand sie sich ein weiteres Mal nicht ein, dass sie ihren eigenen Sohn nie geliebt hatte.
Stattdessen versteckte sie sich hinter Rechtfertigungen und Vernunft. Sie hatte den unbedingten Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, ehe er nach Berlin zurückkehrte, dorthin, wo die quengelige Jessica ihn erwartete und ihm deshalb mit ständigen Telefonanrufen zur Last wurde. Solange er noch in Hamburg war, wo seine Mutter sich für eine Woche in einem kleinen Hotel ein Zimmer gemietet hatte, war die Chance größer für sie, sich mit ihm zu verabreden.
Immerhin waren die Erinnerungen an Julian stets ihre treuesten Begleiter gewesen, obwohl sie sie unermüdlich mit der bitteren Erkenntnis konfrontierten, als Mutter nicht genügt zu haben.
Nachdem Julian sie einfach in der Hotellounge alleine zurück gelassen hatte, war sie sekundenlang versucht gewesen, hinter ihm her zu laufen, ihn bei den Schultern zu packen und ihn in aller Offenheit zu fragen, warum er sie eigentlich schon als Kind immer weg gestoßen, ihre Nähe nicht ertragen und sich mit jedem Jahr weiter von ihr entfernt hatte.
Er war ihr viele Antworten schuldig geblieben, auf die sie schlichtweg ein Recht zu haben glaubte.
5. Kapitel
„ Komm herein, Sarah, komm ´rein“, forderte Direktor Hoffmüller schmunzelnd die junge Lehrerin auf, kaum, dass sie nach einem vorsichtigen Klopfen die Tür eine Handbreit geöffnet hatte, um vorsichtig in das Arbeitszimmer des Direktors zu spähen.
Es war kein Geheimnis, dass Hoffmüller von allen aus dem Kollegium Sarah Niehusen am meisten schätzte. Möglicherweise, weil sie etwas Seltenes teilten, nämlich die Jahre mit Gregor Becker und damit die Erinnerung an einen ungewöhnlich guten Lehrer und Pädagogen, der in diesem Jahr in Pension gegangen wäre, wenn er nicht vor fast drei Jahren ganz unerwartet Selbstmord begangen hätte.
Seitdem hatte sich das Kollegium verändert, alles war immerzu in Bewegung und Veränderungen unterworfen gewesen. Ein halbes Dutzend Pädagogen waren in den Ruhestand verabschiedet worden, dafür rückten andere nach, jünger als Sarah, aber eben nicht mit ihrer Erfahrung.
Ganz zu schweigen von den Referendaren, die man während dieser Zeit am Kant-Gymnasium hatte kommen und wieder gehen sehen – ein Vorgang, den Hoffmüller alle Jahre wieder verfluchte, denn nichts war anstrengender als Referendare zu begleiten, sie anzuleiten und ihnen zu ermöglichen, das umzusetzen, was man im Studium häufig den „Dialog mit den Schülern“ nannte.
Theorie, nichts als blasse Theorie, sagte Hoffmüller regelmäßig, sobald dieser Satz in irgendeiner Diskussion fiel, und wischte ihn augenblicklich mit einer Handbewegung beiseite. Sarah, die seine Argumentation seit der Einführung von G8 kannte und sogar nachfühlen konnte, belächelte dennoch Hoffmüllers Aversion gegen jede Neuerung an den Gymnasien.
„Schule muss beweglich und aufgeschlossen genug sein, um sich zu verändern, zu öffnen“, hatte sie dem Direktor schon ebenso häufig geantwortet, wann immer er genau dagegen – nämlich Veränderung und Öffnung – räsonierte. Aber weiter gebracht hatte es sie beide nicht.
„Komm doch ´rein“, wiederholte Hoffmüller und erhob sich, groß und hager wie er war, umständlich aus seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch. Er zog für Sarah einen alten Sessel heran, auf dem in vielen Jahren unzählige Lehrerkollegen, Eltern und Schüler gesessen hatten. Kein Wunder, dass das einst tannengrüne samtene Sitzpolster des Sessels
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