Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
hätte sagen können, gegen wen oder was sie sich eigentlich richtete.
„Ich war Robert gegenüber immer loyal“, sie hatte Mühe, ihre Stimme gesenkt zu halten und nicht schrill zu klingen, denn wenn sie etwas hasste, dann waren es keifende Frauen, und zu denen hatte sie sich nie gezählt.
Julian sah seine Mutter lange an. Sie war ihm fremder als jemals zuvor. Die Trennung hatte ihrer Beziehung nicht gut getan, sondern sie nur noch weiter auseinander driften lassen.
Es war nicht seine Absicht gewesen, dem ersten gemeinsamen Gespräch nach sehr langer Zeit diese Richtung zu geben, doch Verena ließ ihm keine andere Wahl.
„Ja, ja, das sagt sich immer so leicht“, murmelte er verächtlich. „Deine Loyalität dauerte allerdings nur so lange, wie du dich in Sicherheit und finanziell versorgt wusstest.“
Das war ein Affront, wie Verena ihn noch nie von irgendjemand zu hören bekommen hatte, und weil ausgerechnet ihr Sohn das sagte, traf es sie umso tiefer.
„Du hast nicht das Recht, mir so einen Vorwurf zu machen!“
stieß sie hervor. „Ich habe deinen Vater seinerzeit nicht verlassen, weil der Manufaktur die Pleite drohte, sondern weil ich zurück zum Theater wollte.“
Julian, nun auch aufgebracht, fiel ihr ins Wort: „Eben weil klar war, dass die Firma in die Pleite segelte, hättest du zu Robert halten müssen. Wo war deine Loyalität da?“
„Du hast doch immer nur Krieg gegen ihn geführt“, erinnerte Verena ihren Sohn schroff. „Du hast ihn ignoriert und verachtet, warst nie bereit, dich mit ihm auseinander zu setzen. Aber das wurde ja immer damit entschuldigt, dass er soviel Arbeit hatte. Genau genommen war Robert nie da, Julian. Weder für dich noch für mich.“
Der junge Mann schwieg. Verena nutzte diesen kurzen Augenblick, um ihn zu betrachten, und während sie das tat, erkannte sie in schmerzhafter Deutlichkeit ein weiteres Mal, wie sehr er ihr glich. Es gab gar keinen Zweifel daran, dass sie, wenn sie Julian ansah, sich selbst sah.
Er hielt ihr gewissermaßen einen Spiegel vor. Es war ihr Gesicht, in das sie blickte. Er war so schön wie sie einst mit Fünfundzwanzig gewesen war. Doch während ihre Schönheit nun, zwanzig Jahre später, allmählich ermattete – einerseits, weil das in der Natur des Älterwerdens lag, doch andererseits auch, weil sie dem angestrengten Leben, das sie geführt hatte, Tribut zollen musste – würde Julians engelhaftes Boticelli-Gesicht noch mindestens zwanzig Jahre so makellos bleiben, wie es in diesem Moment war.
Verena schob diese Gedanken beiseite, weil sie zu nichts führten. Stattdessen rang sie sich zu mehr Herzlichkeit und Wärme durch, denn es war schließlich immer noch ihr Kind, dieser junge Mann, der ihr in der Hotellounge gegenübersaß.
„Deine Einstellung deinem Vater gegenüber hat sich offenbar verändert“, knüpfte sie, nun versöhnlicher, dort an, wo ihr Gespräch ins Stocken geraten war. „Wann ist das passiert?“
Julians Blick ging an ihr vorbei ins Leere. „Er war da, als ich ihn am meisten brauchte“, konnte sie ihn irgendwann leise sagen hören.
„Tatsächlich?“ Das meinte Verena ironisch.
Sein Blick, plötzlich glashart, kehrte zu ihr zurück, und genauso klang seine Stimme, als er fragte: „Und wo warst du?“
Verena wurde schneeweiß.
Dabei hätte sie auf diese Frage vorbereitet sein müssen. Sie hatte schon sehr früh gewusst, dass ihr Sohn sie eines Tages genau das fragen würde.
Der Junge mit dem hinreißend wilden Lächeln, das nie darüber hinweg täuschen konnte, dass er seine Mutter ablehnte, sich gegen sie wehrte, wo immer er konnte und sie damit unweigerlich in die Defensive und schließlich zur Verzweiflung trieb – dieser Junge hatte ihr fast fünfundzwanzig Jahre lang Zeit gelassen, eine Antwort zu finden. Bis eben hatte er nie gefragt. Nichts. Niemand.
Vielleicht hatte er geglaubt – oder sogar gehofft – seine Mutter würde von alleine anfangen, mit ihm zu reden. Vielleicht hatte er sich damit getröstet, dass sie eines Tages soweit sein würde, ihm zu erzählen, was er hören wollte, doch das war nie geschehen.
Im Laufe der Jahre hatte Julian ein erhebliches Potenzial an nicht mehr zu übersehender Grobheit, eine Aggressivität entwickelt, die der eines Raubtieres in einem zu engen Käfig glich und sich gerne in lauter und zerstörerischer Lebenslust Bahn brach.
„Und wo warst du?“
Vier lächerlich kleine Worte, die in Verena jedoch das Gefühl weckten, als legte sich eine harte
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