Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
jawohl, er war es, mit dem sie an diesem Nachmittag hier eine Verabredung hatte.
Zum Fünf-Uhr-Tee herrschte in der Lounge des Hotels die Atmosphäre eines überfüllten Bahnhofsrestaurants. Jene schläfrige, fast träge Stimmung, die hier den gesamten Tag über in der Luft lag, machte regelmäßig eine halbe Stunde vor Fünf einer hektischen Betriebsamkeit Platz, die sich wie eine Wolke aus Gesprächsfetzen und klirrenden Gläsern über die von Hotelgästen und deren Besuchern dicht besetzten Tische legte.
Die feine Gesellschaft hatte sich pünktlich zum Tee eingefunden, und selbst, wer nur für ein, zwei Stunden zu Gast war, durfte sich das Gefühl gönnen, für diese kurze Zeit dazu zu gehören.
Insider kannten sich selbstverständlich. Tout-Hamburg war anwesend und schon deshalb ließ es sich kaum vermeiden, einander zu begegnen. Kein Wunder also, dass Verena etliche erkannte, die sie aus ihrer Ehe mit Robert Debus noch in Erinnerung hatte.
Von der anderen Seite durfte sie allerdings keine große Begeisterung erwarten. Nein, man quälte sich nicht mit den obligaten konventionellen Phrasen gegenseitiger Wertschätzung, sondern ignorierte Verena schlichtweg, sodass sie schnell begriff, dass kaum jemand sie noch kennen wollte.
Verena saß – ein Opfer ihres eigenen Unbehagens, das ständig zunahm und ausgelöst wurde von der zur Schau getragenen Gemeinschaft der anderen, an der sie nicht teil hatte – alleine an einem Tisch, den man nicht sofort von der Tür aus entdeckte. Sie vermied es, den Kopf zu heben und damit möglicherweise den Blicken derer zu begegnen, die sie früher schon verabscheut, aber dennoch Freunde genannt hatte.
Stattdessen starrte sie trübe in den genauso trüben, längst erkalteten Tee, während sie in Gedanken versuchte, die Summe Geldes zu addieren, die ihr Aufenthalt in diesem Hotel sie kosten würden, kam dabei allerdings zu keinem Resultat. Früher war es nie nötig gewesen, sich vor Hotelrechnungen zu fürchten, aber früher war lange her und längst vorbei.
Heute musste sie auf jeden Euro achten, den sie ohne Not ausgab – ein Zustand, an den sie sich noch immer nicht gewöhnt hatte und ernsthaft bezweifelte, dass ihr das jemals gelingen würde.
Ihr war kalt und ein bisschen übel, und als eine freundliche Serviererin sie erneut fragte, ob sie etwas essen wolle, lehnte sie dankend ab. Sie verspürte keinen Hunger, obwohl sie, als sie die Lounge betreten hatte, durchaus Appetit gehabt hatte. Sie wollte auch nicht über ihre Vergangenheit nachdenken und tat es dennoch immer wieder. Eigentlich hatte sie gar keine Lust, hier zu sitzen und zu warten, doch ihre Widerstandskraft war ihr verloren gegangen und dafür hatte ein einziger Augenblick ausgereicht.
In jenem Augenblick hatte sie einen Brief geöffnet und gelesen. Danach war nichts mehr so gewesen wie zuvor.
Die kurze, sachliche Mitteilung, die sie vor zehn Tagen von der Produktionsfirma jener Fernsehserie, in der sie zwei Jahre lang eine Hauptrolle spielte, erhalten hatte, war ein zu großer Schock gewesen.
„Sehr geehrte Frau Debus-Hartung,
wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Rolle der Henriette B. in der 3. Staffel unserer Serie `Die Heimkehr der Henriette B.` mit einer neuen Darstellerin besetzt wird. Die sinkenden Zuschauerzahlen zwingen uns, mehrere Schauspieler, die von Beginn an bei der Serie dabei waren, auszuwechseln. Neue Gesichter sind jetzt gefragt – eine Tatsache, die wir leider nicht ignorieren können…“
Als Verena halbwegs begriffen hatte, was dieses Schreiben für sie bedeutete, brach ihre Welt, ihr Leben wie im Zeitlupentempo zusammen und sie sah, starr vor Entsetzen, dabei zu.
Zunächst unfähig, auch nur ansatzweise einen klaren Gedanken zu fassen, erwachte sie eines Morgens mit dem Satz, den sie wie ein Mantra immer wieder vor sich hin sagte:
„Ich muss mich wehren.“
Es vergingen mehrere Tage, ehe sie, wie aus einer Narkose erwachend, wieder zu sich kam, und als sie dann begann, darüber nachzudenken, was sie tun sollte, war es zu spät. Sie war davon ausgegangen, mit einem klärenden Gespräch noch etwas retten zu können, doch das erwies sich als Irrtum.
Gespräche waren nicht vorgesehen. Die Kollegen, die ihr Schicksal teilten, hatten bereits die gleiche Erfahrung gemacht.
Die Intensität von Verenas Angst und ihrer Wut wuchs in der darauf folgenden Zeit, bis sie irgendwann erkannte, dass Schweigen der bessere Teil der Tapferkeit war.
Nachdem sie die Kündigung
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