Liebesnächte in der Taiga
Rabenaas …«
So fuhr Väterchen Alexeij nach Hause. Semjonow und Schliemann sahen seinem Schlitten nach, bis er zwischen den Stämmen verschwand.
Dann war Weihnachten da.
Am Heiligen Abend war man allein in seinem Haus, aß gut und trank Wodka oder Kwass, bekränzte die Hausikone und beschenkte sich. In Nowo Bulinskij allerdings kam noch etwas hinzu: der gute, alte deutsche Weihnachtsbaum. Da stand er in der schönsten Ecke des Zimmers, vom Boden bis zur Decke, wild gewachsen wie alle Bäume der Taiga, und er war geschmückt wie die Bäume in Köln und München, Hamburg und Passau, Lübeck und Saarbrücken, wie überall, wo Deutsche am Heiligen Abend vor einem vom warmen Licht der Wachskerzen beleuchteten Tannenbaum sitzen und Besinnlichkeit und Frieden durch ihre Herzen ziehen.
Der erste Weihnachtsbaum leuchtete in der Heiligen Nacht 1947 am Ufer der vereisten Lena. Aus der Taiga hatten ihn deutsche Plennys an den Strom geschleppt und in die steinhart gefrorene Erde gerammt. Vier Kerzen, in zusammengerollten Blechdosen aus Kerzenresten des ganzen Jahres gegossen, flackerten in die fahle Eisnacht, und um den Baum herum standen siebenundvierzig in Wattemäntel und Pelzmützen eingemummte deutsche Kriegsgefangene und sangen ›Stille Nacht, Heilige Nacht …‹ über Taiga und Lena.
Heute flackerten die Kerzen fast in jedem zweiten Haus von Nowo Bulinskij, und es gab sogar einige Familien, die ein Grammophon besaßen und Platten mit den alten Weihnachtsliedern.
Weihnachten.
An diesem Heiligen Abend wurde das Kind Semjonows und Ludmillas getauft. Schliemann, die Kirstaskaja und Kurt Wancke, der Buchhalter aus Berlin, waren die Paten, und Wancke vor allem deshalb, weil er behauptete, er gehöre als dreifacher Blutspender Ludmillas fest zur Familie.
Eine prächtige Taufe war's. Ein Chor sang die herrlichen altrussischen Choräle; die großen Kerzen flackerten; von den Ikonen und Wandmalereien leuchtete das Gold – wenn es auch einfache Goldbronze war; Hunderte von Heiligenaugen blickten herab, als Väterchen Alexeij das Köpfchen der kleinen Nadja entblößte, die Kirstaskaja das Kind über das Taufbecken hielt und das Taufwasser in die dünnen schwarzen Haare rieselte wie durchsichtige Perlen, die aus Väterchen Alexeijs Händen rannen.
»Ich taufe dich auf die Namen Nadja Ludmilla Irena Semjonowa«, sagte Väterchen Alexeij mit seiner tiefen Stimme. »Christus sei mit dir bis zu deinem letzten Tag.«
Mein Kleines, dachte Ludmilla zärtlich. O mein Kleines. Wie ein Wolfsjunges wurdest du geboren. Wie wird die Welt aussehen, wenn du so alt sein wirst wie ich?
Drei Tage nach Weihnachten brach das Unglück über Nowo Bulinskij herein.
Es war ein Tag, wie geschaffen für eine solch gemeine Tat. Der Himmel hatte sich grau bezogen, und jeder wartete auf den neuen Schnee, der alles unter sich begraben würde; denn was dort in den tiefen Wolken hing, würde einer Sintflut von Schnee gleichen, wenn alles über der Lena herunterkam.
Auch der Leiter der Sowchose Munaska ahnte etwas und berief außer der Reihe seine Mitarbeiter zu den Silos. »Genossen«, ließ er verlauten, »verzeiht, daß ich euch kommen ließ, obgleich Winterferien sind, aber wenn der große Schnee fällt, werden wir wieder von aller Welt abgeschnitten sein. Noch neunhundert Kohlfässer sind zu salzen und zweitausend Doppelzentner Mehl zu mahlen. Wenn wir alle anfassen, sind wir in zwei Tagen damit fertig. Also, Genossen, spuckt in die Hände … es ist ja für euren Magen, Brüder.«
So fuhren also an diesem Tag fünfzig Männer aus Nowo Bulinskij hinaus, die Lena hinauf zur Sowchose und arbeiteten den ganzen Tag an den Kohlfässern und in der Mühle.
Als sie zurückkamen, war schon alles geschehen. Und es begann so harmlos, wie aus einem Frühlingslüftchen ein Wirbelsturm entsteht.
Gegen 10 Uhr vormittags holperten zwei Schlitten mit je vier unbekannten Männern über die Hauptstraße und hielten vor dem Postgebäude. Die Männer, finstere Gestalten in langen Wolfspelzen und Fuchsfellhosen mit angenähten Pelzstiefeln, stiegen aus den Schlitten, vertraten sich die steifen Beine, gingen zum Kirchplatz, sahen sich nach allen Seiten um, standen vor dem Fenster des Krämerladens von Oleg Schamow und sahen in die Schule hinein, wo die Lehrerin Anna Petrowna gerade das Märchen von Peter und dem Wolf erzählte und von einer Schallplatte die Musik von Prokofieff dazu erklang. Dann gingen sie weiter, umkreisten die Monopolgesellschaft, wo der
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