Liebesnächte in der Taiga
Hocker und hatte ihm die ganze Zeit zugesehen.
»Es ist morgen vorbei, Stepan Iwanowitsch«, sagte Karpuschin leichthin. »Der Körper wehrt sich gegen die Droge, wenn die Nervenbetäubung nachläßt. Sie werden sich hinterher vorkommen wie nach einem Fünfzig-Werst-Marsch.«
»Was wollen Sie noch von mir?« röchelte Alajew und warf sich auf den Rücken. »Was wissen Sie denn noch nicht?«
»Wo Heller ist …«
»Das kann ich nicht sagen. Das weiß ich nicht!«
Karpuschin nickte. »Genau das haben Sie auch in der Betäubung gesagt. Wir müssen es Ihnen glauben. Aber wir wissen jetzt, wie Franz Heller heißt. Er ist, laut Paß, in Barabanowka im Kreis Tschkalow geboren und nennt sich Pawel Konstantinowitsch Semjonow.«
Alajew schloß die brennenden Augen. Unendliche Müdigkeit überkam ihn. Wie unvollkommen ist doch der Mensch, dachte er, bevor er einschlief. Eine kleine Spritze nur – und man kann in ihm lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch.
Gute Nacht, Pawel Konstantinowitsch.
Auch Sibirien ist nicht groß genug, um einen Menschen zu verstecken, den man jagt …
»Pawluscha! Blick dich um! Das Schicksal ist mit uns!«
Semjonow wandte den Kopf. Er stand vor einem Steinhaus mit einer Doppeltür. Ein roter Stern prangte über dem Eingang, außerdem hatte man ein Transparent in der Eingangsnische gespannt, auf dem in dicken Lettern stand: Die Zukunft seid ihr!
»Wir werden heiraten …«, sagte Ludmilla leise und lehnte den Kopf an Semjonows Wolfskragen. »Sofort, Pawluscha. Dann brauchen wir uns nicht mehr zu verstecken.«
Semjonow starrte auf den Eingang des Heiratspalastes von Komssa. Sein Entschluß stand fest, es hatte sich nichts daran geändert. Er blieb Semjonow. Es gab keinen Franz Heller aus Riga mehr, zuletzt wohnhaft in Bonn. Die Vergangenheit war verbrannt worden, im Hause des Möbelhändlers Alajew. Es galt nur noch die Gegenwart und die Zukunft, und beides gehörte allein Ludmilla Barakowa.
»Komm«, sagte er mit seltsam ergriffener Stimme. »Gehen wir hinein. Du kannst nicht begreifen, wie ich dich liebe. Ich ginge auch mit dir, wenn es meinen Kopf kosten würde …«
Sie nahmen sich an die Hand wie zwei Kinder, die ein Zauberland betreten, ein wenig scheu, ein wenig neugierig, aber mit weit offenen Herzen. In der Tür, unter dem Transparent und dem roten Stern, küßten sie sich und traten dann ins Haus.
Nach einer halben Stunde standen sie wieder auf der Straße, nun Mann und Frau vor dem sowjetischen Gesetz. Trauzeugen waren ein Ofensetzer, der im Nebenzimmer einen defekten Ofen aufmauerte, und ein schläfriger Fotograf, der die jungen Ehepaare fotografierte.
»Ludmilla Semjonowa«, sagte Semjonow. »Wie klingt das in deinen Ohren, Täubchen?«
»Wie die Fanfaren der Oktoberrevolution … und wie die Geigen aus Tschaikowskijs ›Schwanensee‹«. Sie breitete die Arme aus und rief in die eisige Luft: »Wer ist so glücklich wie ich? Ich bringe ihn um, wenn es einer behaupten wollte!«
Semjonow starrte versonnen in den verharschten Schnee. Nun ist sie meine Frau, dachte er. Ich werde Kinder von ihr haben, sie werden heranwachsen und gute Russen werden. Sie werden alle Semjonow heißen und nie wissen, daß ihr Vater ein Deutscher war, ein Spion in den Diensten der Amerikaner, ein Spion, der an der Liebe scheiterte, dem ein Kuß Ludmillas tausendmal mehr wert war als das Bewußtsein, mit einer Geheimmeldung die westliche Welt weiter aufgeklärt zu haben.
»Woran denkst du, mein Mann?« fragte Ludmilla und wischte sich ein paar gefrorene Tränen aus den Augen. Wirklich, sie hatte geweint, vor Glück geweint, und Semjonow hatte es nicht einmal bemerkt.
»Wir müssen einkaufen«, sagte er stockend. »Fleisch, Wein, Butter, Speck, Fisch, Gebäck … wir wollen feiern in Kusmowka! Man soll nicht sagen, der Semjonow nimmt sich ein süßes Frauchen und nicht mal ein Schlückchen gibt er dafür aus, der Geizhals.«
Sie gingen weiter und trafen, als sie um die Ecke bogen, auf Jefimow. Es war ihnen, als werfe man sie in kaltes Wasser und tauche sie mit Stangen unter.
»Ah! Das ist eine Freude!« rief Jefimow und umarmte Ludmilla und Semjonow. »Ludmilla hoffte ich zu sehen beim Kongreß – aber Sie, Pawel Konstantinowitsch! Was treibt Sie in die Stadt?«
»Astlöcher in Futtertrögen, Genosse Kommissar.«
Man lachte darüber, und wenn Ludmilla nicht dabeigewesen wäre, hätte Jefimow bestimmt einen Witz erzählt, der sich mit Astlöchern befaßte. So blinzelte er nur, hakte sich bei
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