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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sich sofort nach allen Seiten hin auflöst und langsam zerläuft. In sein Zentrum gibt sie eine kleine Portion Orangenmarmelade, die nun leicht zu verstreichen ist und sich mit der Butter vermengt. Sie teilt die Scheibe und legt dem Geliebten und sich selbst dann jeweils eine Hälfte davon auf den Teller. Dazu passt der Tee, von dem sie nun ebenfalls etwas serviert. Er ist und bleibt ungezuckert, natürlich, die Orangenmarmelade ist so süß, dass der Verzehr der Toastscheiben den Zucker ersetzt.

    So frühstücken sie langsam und genussvoll, dieses Frühstück besteht aus drei Gängen, aus grober Wurst, reifem Käse und Orangenmarmelade, dazu trinken sie Sekt, Kaffee und Tee. Als sie reichlich von allem gegessen und getrunken haben, nimmt sie den letzten Schluck Sekt, danach fühlt sie sich warm und gesättigt.

    Sie steht auf und lässt alles auf dem Tisch stehen und liegen, sie geht hinüber zum Schreibtisch, räumt die Zeichnungen zur Seite und holt einige Hotelbriefbögen hervor. Sie hat Lust, etwas zu schreiben, ja, das passt jetzt genau, denn ihr geht so viel durch den Kopf, dass sie von all diesen Gedanken unbedingt etwas festhalten sollte.

    Und er? Was macht er? Sie schaut sich nicht nach ihm um, aber sie vermutet, dass er sich eines der Bücher vom Regal nehmen und lesen wird. Sie werden sich jetzt beide etwas beschäftigen, so wird es sein, so stellt sie es sich vor.

    Dann schreibt sie:
    Wie ich gern frühstücke

    Wie die Frau eines französischen Malers, der für seine Frau
und sich selbst einen schönen Garten angelegt hat
Wie die Frau eines japanischen Zeichners, der für seine Frau
und sich selbst jeden Tag eine kleine Zeichnung mit winzigen
Naturszenen hintuscht
Wie die Frau eines Komponisten des neunzehnten Jahrhun-
derts, der für seine Frau und sich selbst jede Woche ein samtenes
Salonstück komponiert
Wie die Frau eines japanischen Flötenspielers, der für seine
Frau und sich selbst lauter Stücke im Kopf intoniert

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    ALS DIE Musik verklungen ist, legt er das Buch, in dem er die ganze Zeit gelesen hat, auf den Frühstückstisch. Er steht auf und geht zu ihr hinüber an den Schreibtisch. Er sieht, dass sie unentwegt schreibt. Auch er hat etwas notiert, doch es ist nur eine kurze Botschaft in wenigen Worten. Er legt sie auf ihren Schreibtisch, dann umarmt er sie und küsst sie auf den Nacken. Sie dreht
sich zu ihm herum und lächelt, bleibt aber weiter sitzen und greift dann nach dem Zettel, den er ihr hingelegt hat: the writer is present 1: in Katharinas Buchhandlung.

    Sie nickt und wendet sich dann wieder ihrem Schreiben zu. Er verlässt das Gartenhaus und geht die kleine Runde zurück zur Freifläche des Hotels, wo die orangefarbenen Sonnenschirme in der großen Helligkeit wie sonnentrunkene Pilze stehen, die einen schweren Rausch ausdünsten.

    Er durchquert das Restaurant, das sich längst geleert hat und in dem bereits für das Mittagessen gedeckt wird. Er geht zu einer Bedienung und fragt sie:
    – Gibt es heute etwas Herbstliches zu essen?
    – Herbstlich?
    – Ja, etwas, das man vor allem jetzt im Herbst isst.
    – Es gibt Wild, aber nur abends, und die meisten Gäste mögen kein Wild.
    – Gibt es Reh? Gibt es Rehrücken oder Rehbraten?
    – Ja, das alles gibt es, aber erst abends und nur unten, in unserem französischen Keller-Restaurant.
    – Ist dieses Restaurant nur abends geöffnet?
    – Ja, ausschließlich abends, aber wenn Sie es sich ansehen wollen, dann gehen Sie nur hinunter, unser Chefkoch ist dort mit seiner Truppe längst im Einsatz. Er war in der Frühe sogar schon auf den Märkten in München, er ist ein ganz Fleißiger, wissen Sie.

    Er lacht, bedankt sich für die Auskunft und eilt weiter, er geht an der Rezeption vorbei Richtung Buchhandlung. Er kommt sich stark verändert vor, ja, zweifellos,
an diesem Morgen ist etwas mit ihm geschehen. Er fühlt sich kraftvoll und ruhig, und er hat das Gefühl, nun vieles besser ordnen zu können. In den vergangenen Tagen hatte er sich oft Gedanken darüber gemacht, wie eine direkte Begegnung zwischen Jule und ihm aussehen könnte. Und jetzt ist alles so einfach gewesen und von der Art, als bräuchten sie keinerlei Worte zu machen, weil sie wissen, was der andere empfindet und denkt und was er als Nächstes tut. Worte markieren Unterschiede, stellen fest und rücken zurecht – in diesem Sinn stören sie vorläufig nur. Man müsste Worte anders verwenden, als Erkennungszeichen, als Bestätigung, als Ausruf, als

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