Liebesnöter
ganz normal.«
»Für mich nicht. Für mich ist das nicht normal. Für mich ist das erschreckend. Wer weiß, nachher stürzt du Inger noch über die Klippen, nur damit dein Film spannend wird.«
»Jetzt übertreibst du aber maßlos!« Sein erheitertes Lachen klang echt, und Ella wusste einfach nicht mehr, was sie von ihm halten sollte.
»Also, ich fahre in einer halben Stunde zurück«, warf der Fährmann ein. »Und pendle alle weiteren dreißig Minuten. Allerdings nur bei gefahrloser Überfahrt. Wenn es zu riskant wird, bleibt das Schiff am Ufer.« Er nickte Ella kurz zu und ging auf sein Boot zurück.
»Und jetzt?«, wollte Roger wissen.
»Und jetzt was?«
»Jetzt lass uns endlich gehen!«
Den Weg kannte Ella inzwischen gut. Nur heute sah es wirklich nach einem Unwetter aus. Sie gingen über den weichen Waldboden zwischen den Laubbäumen hindurch, aber selbst hier pfiff der Wind durch ihre Jacke, und Ella hielt sich den Kragen zu.
»Du siehst bezaubernd aus!« Roger ging mit großen Schritten neben ihr her und betrachtete sie im Gehen.
»So? Findest du?«
»Bien sûr! Wie dein langes Haar im Wind weht und wie du dich gegen die Böen stemmst, das ist wunderbar!«
Ella schüttelte den Kopf.
»Weshalb schüttelst du den Kopf?«
»Weil ich offensichtlich überhaupt keine Erfahrung mit Franzosen habe.«
»Aber du machst sie doch gerade!«
Ella musste lachen, obwohl es ihr nach wie vor nicht nach Lachen zumute war. Zu ungewiss war die Situation, und sie hoffte mit allen Fasern, dass der Kapitän die Wahrheit gesagt hatte.
»Und was ist an Franzosen so schlimm?«, fragte Roger.
»Schlimm nicht«, entgegnete Ella. Sie überlegte. »Anders! Du hast eine emotionale Bandbreite, da komme ja selbst ich als Frau kaum mit!«
»Als deutsche Frau!«
»Na gut!«
Jetzt kamen sie zu den nackten Felsen, um die der Weg herumführte und die steil zum Wasser abfielen. Ella und Roger blieben stehen und sahen hinab. »Gewaltig!« Roger trat noch einen Schritt vor. Das Wasser schäumte und gurgelte unter ihnen, und die Gischt spritzte fast bis zu ihnen hoch.
»Das ist perfekt!«, murmelte er.
»Was?«, fragte Ella nach, die glaubte, ihn nicht richtig verstanden zu haben.
»Das ist perfekt!«, wiederholte er laut.
»Wofür?«
»Für meinen Mord!«
»Für deinen Mord?« Sie trat einen Schritt zurück.
»In meinem Buch! Bleib da!« Roger griff nach ihrer Hand. »Es ist eine phantastische Location, verstehst du nicht, ein genialer Drehort! Das hat nichts mit der Realität zu tun!«
»Ich weiß nicht. Ich lebe aber nun halt mal in der Realität!«
»Das ist nicht schlimm«, tröstete er sie. »Komm, lass uns weitergehen!« Er ließ ihre Hand nicht mehr los, und Ella ließ es geschehen. Vor allem, weil ihr sein Gesichtsausdruck gefiel. Ein versonnenes Lächeln erhellte seine Züge, er sah glücklich aus. So gefiel er ihr, das war der Roger, den sie kennengelernt und in den sie sich verliebt hatte.
Verliebt?, fragte sie sich selbst. War das das Wort, das sie suchte?
Und dann verlangsamte sie den Schritt, denn sie wusste, nach dem großen bemoosten Felsen würden sie vor dem Haus stehen. Roger legte den Arm um sie und blieb stehen, als das Haus in Sicht kam.
»Da sind wir also«, sagte er.
»Ja, da sind wir«, bestätigte Ella.
»Ganz schön versteckt.«
»Ein Künstlernest.«
»Auf alle Fälle ein Nest.«
Er ging ein paar Schritte vor, dann blieb er wieder stehen. Der Wind jaulte um das Haus. Von hier aus konnte man die schwarze Wetterfront genau sehen, die über das Wasser auf sie zukam.
»Der Kapitän wird seinen Betrieb einstellen«, sagte Ella. »Gleich wird es hier hageln und stürmen und blitzen und sonst noch was alles.«
»Dann schauen wir doch mal, ob Inger uns beherbergt.« Er sagte das in einem Ton, als ginge er zu einer guten Bekannten.
Ella rührte sich nicht. »Kennst du sie?«, kam es ihr plötzlich. »Suchst du sie aus einem ganz anderen Grund?«
»Mein Grund ist immer der Gleiche«, sagte er. »Komm, sonst wird der Tee kalt!«
Ella drückte mehrfach die Klingel, aber es tat sich nichts im Haus.
»Sie ist doch nicht da«, stellte sie erleichtert fest.
»Sie wird uns bei dem Getöse nicht hören! Lass uns einmal ums Haus gehen.«
Tatsächlich waren das Rauschen des Wassers, des Windes und der Bäume stärker geworden. Die Äste ächzten, Fensterläden klapperten, und der Sturm zog an allem, was nicht fest war. Es heulte in den höchsten Tönen.
»Nachts sollte man sich hier nicht
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