Liebling, Ich Kann Auch Anders
Charakterschwein! – Aber heute werde ich’s ihm zeigen!
Sogleich ließ sich sein Anblick mit mehr Distanz ertragen. Nachdem sie sich vergegenwärtigt hatte, dass er sie in der großen Menschenmenge bestimmt nicht ausmachen konnte, löste sich ihre innere Verspannung allmählich.
Ihn sahen natürlich alle. Zum einen befand sich sein Platz in der zweiten Reihe, dann kam er in vorletzter Minute, sodass etliche Leute aufstehen mussten, um ihn und die Dame an seiner Seite durchzulassen. Auch überragte er ohnehin die meisten. Wer hinter ihm saß, war von seinem Gardemaß sicher nicht so begeistert wie Eva, als sie noch miteinander verkehrten. Zu ihrem tiefen Bedauern fand sie ihn trotz all der Empörung über sein Verhalten immer noch umwerfend attraktiv. Die Frau an seiner Seite – zweifellos Francis, seine Angetraute – gefiel Eva wider Willen und Erwarten ausgesprochen gut. Mittelgroß, schmal und blond, wirkte sie etwas britisch und auf elegante Art sportlich. Eine sympathische Erscheinung, dachte Eva. Es gibt nichts an ihr auszusetzen und einiges, wofür sie ein paar Bonuspünktchen verdient. Aber sie kann mir egal sein und geht mich überhaupt nichts an. Wenn ich auch eine ganze Menge über sie weiß. Sie ist die Frau eines Lügners und Betrügers. Und nur dem gilt heute mein Interesse.
Sie unterbrach ihre Betrachtungen, als Alexandra Renner aufs Podium trat. Eva merkte, wie schwer es ihr fiel, vor all den Menschen zu sprechen, obwohl sie von Berufs wegen ständig Leute begrüßte. Vor lauter Mitgefühl fing auch ihr Puls zu rasen an. Aber der war ohnehin schon weit über ihre normalen fünfundsechzig pro Minute hochgeschnellt, seit sie Magnus erblickt hatte. Schostakowitschs, Tschaikowskys und Dvo ř áks Kompositionen, die virtuos vorgetragen wurden, lieferten für Eva lediglich die Geräuschkulisse ihrer zahlreichen sich überschlagenden Gedanken, die allesamt um Magnus kreisten.
Hielt diese sportlich und souverän wirkende Ehefrau ihren Mann etwa an der kurzen Leine? Hatte er sie, Eva, tatsächlich aus Loyalität zu seiner Frau an der ausgestreckten Hand verhungern lassen – was nichts entschuldigte, aber einiges Wenige erklärt hätte? Oder war es seiner Frau ziemlich egal, was er trieb, solange er am Abend heimkam, am Wochenende und in den Ferien für die Kinder präsent war und sie selbst zu repräsentativen Anlässen begleitete? Wusste sie von seinen Internetaktivitäten, von seiner Sucht, in virtuellen Fluren herumzuwildern? Lächelte sie vielleicht milde darüber und belegte derweil mit Freundinnen Psychokurse und Yogastunden oder widmete sich karitativen Zielen?
Noch einmal zermarterte sich Eva das Hirn über die Frage, warum er sie so tief reingezogen hatte, wenn er Nähe fürchtete. Musste er sich an anderen Frauen für das rächen, was seine Mutter ihm angetan hat?
Ohne seine Zauberworte, die sich als hohle Versprechungen entpuppten, hätte sie sich doch niemals so intensiv auf ihn eingelassen, und es wäre ihm nie gelungen, sie dermaßen tief zu verletzten. Dieser Herzens- und Ver-brecher! Wie konnte er ihr das antun?
»Ts«, hörte sie Sibylle im Geiste zischen und noch mal: »Ts! Die von Frauen ach so oft gestellte Frage: Wie kann er mir das antun?, geht doch völlig an den realen Gegebenheiten vorbei. Schließlich impliziert sie, der Mann richte sein Verhalten in irgendeiner Weise nach der Frau aus. Das ist natürlich absoluter Quatsch. Was er entscheidet und unternimmt, hat mit ihr – beteuert er es nicht oft genug? – gar nichts zu tun. Okay, sie kriegt natürlich die Folgen zu spüren, aber das ist allein ihr Problem. Wie ein Mann agiert, das geschieht nach seinen persönlichen Gesetzen – wonach ihm zumute ist. Und wenn sein Piephahn Druck macht und sein Recht fordert, dann sieht er zu, wie er dem gerecht werden kann. Sein Gockel ist sein Nächster, und den liebt er wie sich selbst. Wie eine Frau damit umgeht, ist ihr Problem. Da mischt er sich auch gar nicht ein. Für Mann und Hahn ist sie dann von Bedeutung, wenn sie gebraucht wird. Basta.«
Natürlich hatte Eva dergleichen Statements von Sibylle immer als witzig und gleichzeitig haarsträubend empfunden. Genau wie ich. Aber jetzt, in diesem Augenblick, kam ihr zu Tschaikowskys Ungarischem Tanz der Gedanke, Sibylle könnte mit ihren ketzerischen Analysen recht haben, die auf so ätzende Weise den Glauben an Fairness zerstörten und die Illusion von romantischer Liebe in den Wind schossen. Aber das Merkwürdigste war: Sie
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