Lieblingslied: Roman (German Edition)
ständig in Gespräche verwickelt. Als die seltsamen Schritte daher neben mir erneut verhallten, nahm ich an, dass ich beobachtet wurde, und stellte mich schlafend. Dann bewegten sich die Geräusche in Richtung Anna, und ich öffnete ein Auge, um zu sehen, wer hereingekommen war.
Hätte ich nicht schon gelegen, der Anblick von Großvater, der neben Annas Bett stand, hätte mich glatt umgehauen.
Das sich rhythmisch wiederholende »Plopp« verursachte sein alter Stock. Mit der Frage, wie er wohl außerhalb der Besuchszeiten in die Intensivstation gelangen konnte, hielt ich mich erst gar nicht auf. Jedenfalls war er da. Ein dunkler, gebeugter Schatten neben Annas Bett. Unter seinem Arm klemmte der alte Holzkasten.
Am liebsten hätte ich ihn sofort wieder nach Hause geschickt. Schließlich hatte ich ihn nicht eingeladen. Und vor allem verstieß er eindeutig gegen die Krankenhausvorschriften. Andererseits handelte es sich bei dem nächtlichen Besucher um Großvater Bright, den Mann, der mich großgezogen, mich als kleinen Jungen bei sich aufgenommen, mir fast alles Wesentliche im Leben beigebracht hatte. Nicht in meinen schlimmsten Albträumen traute ich ihm Böses zu. Wenn er es für wichtig hielt, Anna mitten in der Nacht in einem dunklen Krankenzimmer einen Besuch abzustatten, dann wollte ich den Grund erfahren.
Und zu diesem Zweck stellte ich mich weiterhin schlafend und wartete ab, wie sich die Dinge entwickeln würden.
Intermezzo – Zwischenspiel
18
GROSSVATER SETZTE SICH AUF DEN STUHL an Annas Bett, bückte sich und stellte den Holzkasten neben sich auf den Fußboden.
»Hallo, junge Dame«, begann er leise in einem Ton, als könne sie ihn tatsächlich hören. »Hast vermutlich nicht erwartet, mich heute Abend hier zu sehen, was? Dein Mann ist schon jenseits von Gut und Böse. Hättest ihn mal als Teenager erleben sollen. Der Junge konnte alles verschlafen. Sogar die Schule, wenn ich mich recht erinnere.«
Er reckte den Kopf in meine Richtung.
Ich schloss schnell die Augen, um nicht ertappt zu werden.
»Verdammt schade«, fuhr Großvater fort. »Wollte unbedingt mit ihm reden.« Er wandte sich erneut ab, und ich schlug die Augen wieder auf.
Großvater verlagerte sein Gewicht und griff mit einer Hand nach dem Gitter des Krankenbetts, um sich abzustützen. »Anna, hat Ethan dir je erzählt, dass ich im Zweiten Weltkrieg gekämpft habe? Als er noch jünger war, hat er mich deshalb ständig gelöchert. Viel habe ich ihm allerdings nie erzählt. Vermutlich war ich weniger mitteilsam in Bezug auf meine Soldatenzeit, als ich es hätte sein sollen. Jeder aus der Familie hat mich irgendwann mal danach gefragt. Es gab Dinge, die hätte ich liebend gern erzählt. Was zu weiteren Fragen geführt hätte, die ich wiederum nicht beantworten wollte. Also habe ich den Mund gehalten.
Tatsache ist … ich werde alt.« Er lachte unterdrückt. »Nein, ich bin alt. Und das schon eine Weile. Und ich lebe nicht ewig. Bevor ich den Löffel abgebe, möchte ich, dass meine Familie Bescheid weiß … über mich. Über mich und den Krieg. Ich will nicht mehr warten. Sie sollen nicht erst erfahren, was ich durchgemacht habe, wenn es mich nicht mehr gibt. Denn dann kann ich ihnen keine Fragen mehr beantworten. Und da ist einiges, das zu Fragen Anlass gibt. Das ist ein Grund, weshalb ich hier nach Kalifornien gekommen bin. Ethan und ich, wir sind uns sehr ähnlich, und ich glaube von all meinen Kindern und Enkelkindern, sind meine Erfahrungen gerade jetzt von größtem Nutzen. Aber wie du weißt, ist dein Ehemann … ein ziemlich störrischer Esel. Er wollte sie nicht nehmen, als ich es ihm angeboten habe.« Er klopfte mit dem Schuhabsatz leicht auf den Holzkasten.
»Natürlich ist der Zeitpunkt denkbar schlecht … Du liegst im Krankenhaus, und ich wünschte, er hätte das verdammte Zeug einfach genommen und gelesen. Du hättest nichts dagegen gehabt, stimmt’s? Mann, er hätte es dir laut vorlesen können. Ich bin heute Nacht hergekommen, um ihn umzustimmen. Aber nein, er muss natürlich wieder einmal schlafen wie ein Murmeltier.«
Großvater hielt inne und drehte sich erneut zu mir um. Ich fühlte seinen Blick auf mir ruhen und zuckte nicht mit der Wimper.
»Tatsache ist«, fuhr Großvater fort, »dass ich mir das irgendwie von der Seele reden muss … ich hatte sie weggesperrt, in diesem Kasten, in meinem Herzen … über eine sehr, sehr lange Zeit. Da Ethan schläft, und du ein so aufmerksames wie wehrloses Publikum bist …
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