Lieblingslied: Roman (German Edition)
hast du sicher nichts dagegen, wenn ich dir die Geschichte erzähle, oder? Ist eine gute Übung für den Tag, da ich sie der restlichen Familie präsentiere. Was meinst du, Anna? Schätze, du findest sie unterhaltsam. Ob du’s glaubst oder nicht, auch wenn es jetzt über sechzig Jahre her ist, dass dies alles geschehen ist, ich erinnere mich an jede Einzelheit noch so genau, als wär’s gestern gewesen. Es gibt eben Dinge im Leben, die kannst du nicht vergessen.«
Er wartete kurz auf eine Reaktion von Anna, die eigentlich nicht zu erwarten war, und fuhr dann gut gelaunt fort: »Danke für deine Nachsicht, Anna. Bisher habe ich nämlich niemandem davon erzählt, nicht mal meiner Frau. Du bist die Erste, Anna. Eigentlich sollte Ethan derjenige sein, aber der hat im Augenblick anderes im Kopf. Verständlicherweise.«
Er verstummte kurz. »Ethan hat ›ein andermal‹ gesagt, als ich ihm den Kasten geben wollte. Und das andere Mal ist jetzt. Da er schläft, kann er das kaum verhindern, was? Wenn ich fertig bin, lasse ich die Tagebücher in dem alten Kasten einfach hier.«
Obwohl ich wusste, dass mich niemand sehen konnte, verdrehte ich ungeduldig die Augen.
Großvater räusperte sich und begann. »Also … wo soll ich anfangen? Am Anfang natürlich. Aber das ist schon die erste Schwierigkeit. Wo fängt die Geschichte an? Ich will nicht zu weit ausholen und dich unnötig langweilen, aber wenn ich mich zu kurz fasse, macht vieles vielleicht keinen Sinn.«
Ich beobachtete, wie er seine Hand hob und die Lippen mit einem runzeligen Finger berührte. »Okay, ich hab den richtigen Ausgangspunkt gefunden. Folgen wir dem roten Faden.«
Er holte tief Luft und begann zu erzählen …
»Dolmetscher«, begann er. »So haben sie mich genannt. Und so sollte ich mich der Außenwelt gegenüber darstellen. Auch meine Eltern dachten, ich sei im Krieg Dolmetscher gewesen. Nachrichtenthemen übersetzen, Geheimdienstnachrichten entschlüsseln, Landkarten oder Zeitungsartikel interpretieren … das war mein Aufgabenbereich, den ich in der relativen Sicherheit eines Militärstützpunktes bearbeitet habe. Sogar meine Freundin wusste nicht mehr. Und natürlich habe ich einige dieser Arbeiten auch erledigt. Aber die meiste Zeit verbrachte ich unter weit weniger komfortablen Bedingungen. Ich fuhr in einer deutschen Uniform kreuz und quer durch Deutschland und Österreich, unter falschem Namen, mit falscher Identität, versuchte, nicht aufzufallen und zu überleben.
In der US -Armee war jemand wie ich ein bunter Hund. In Deutschland geboren, in Amerika aufgewachsen und zum Äußersten bereit, im Kampf gegen die Nazis in meinem Geburtsland. Damit war ich so was wie eine Ausnahme, und meine Einsätze waren auch ausgesprochen gefährlich.
Als ich mich kurz nach der Bombardierung von Pearl Harbour freiwillig gemeldet habe, löste mein leichter deutscher Akzent im Rekrutierungsbüro Skepsis aus. Aber nachdem sie mich, meine Familie und meinen Freundeskreis gründlich durchleuchtet hatten, gelangten sie zu der Einsicht, dass meine Sprachbegabung noch nützlich werden könnte. Nach einer entsprechenden Ausbildung und dem Transport nach Europa wurde sofort klar, dass Dolmetschen und Übersetzen nur ein kleiner Teil dessen war, was sie mit mir vorhatten. ›Sie haben das Potenzial‹, sagte ein Offizier zu mir, ›oder vielmehr das Talent, hinter den feindlichen Linien zu operieren, ohne dass jemand merkt, dass Sie zu den Guten gehören. Wenn Sie Feindesland erkunden, sterben hinterher weniger von unseren Jungs.‹«
Großvater ließ das Bett los und lehnte sich bequem im Stuhl zurück. Er schien sich auf einen längeren Vortrag einzustellen. »Anna«, flüsterte er nach einer Minute, »hoffentlich langweile ich dich nicht. Du bist immer ungewöhnlich gut zu meinem Ethan gewesen. Eine bessere Frau als dich hätte ich mir für ihn nicht wünschen können. Ich hoffe, du weißt das. Der Tag, als er dich kennengelernt hat, war sein Glückstag. Ich bete zu Gott, dass du wieder gesund wirst. Ich wollte nur, dass du das weißt. Aber ehrlich, wenn dich meine Geschichte nicht interessiert, kannst du jederzeit die Reißleine ziehen.« Er wartete einen Moment in der Dunkelheit ab, dann fuhr er fort.
»An einem Sonntagmorgen im November 1944 operierte ich allein in einem Dorf in Oberösterreich: Windhaag bei Freistadt. Ich befand mich wenige Kilometer von meiner Aufklärungseinheit entfernt, die sich unmittelbar hinter der Grenze in der Tschechoslowakei in
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