Lieblingslied: Roman (German Edition)
bedaure es, dass du schon wieder fortgehst. Aber … die Gitarre möchte ich wirklich nicht.«
»Du bist ein harter Brocken, Ethan. Sie bleibt.« Er lehnte die Gitarre an den Tisch neben meinem Stuhl. »Wenn ich fort bin, kannst du damit machen, was du willst. Aber ich nehme sie nicht mit.« Auf dem Tisch lag noch sein alter Holzkasten. Großvater ertappte mich dabei, wie ich einen flüchtigen Blick darauf warf. »Habe mich schon gefragt, wo ich das alte Ding gelassen habe.« Er lachte kurz und humorlos. »Hast du ihn von zu Hause mitgebracht?«
»Sehr lustig.«
»Wie ist er denn hierhergekommen? Ich dachte, du bist daran nicht interessiert?«
»Ich habe gesagt, dass ich ihn nicht im Krankenhaus haben will. Und das war mein Ernst! « Ich hielt inne, starrte den alten Mann an und fragte mich, wie er wohl als junger Soldat ausgesehen haben mochte. Sein Lächeln stimmte mich versöhnlicher. »Ist … es wahr?«, fragte ich schließlich. »Ich meine, was du Anna letzte Nacht erzählt hast?«
Sein Lächeln vertiefte sich. »Dachte mir schon, dass du zugehört hast.«
»Blieb mir ja kaum was anderes übrig! Wer kann schon schlafen, bei dem ganzen Geheule?«
Großvater nickte ernst. »Es ist alles wahr. Jedes Wort.«
»Du hast wirklich aus Hitlers Eagle’s Nest auf dem Obersalzberg eine Türklinke gestohlen?«
»So wahr ich hier sitze!«
»Und du hast sie im Korpus deiner Gitarre versteckt?«
»So ist es.«
Ich wollte nicht zu wissbegierig erscheinen, konnte mir jedoch eine Frage nicht verkneifen, die mir auf der Zunge brannte. »Aber da ist sie doch wohl nicht mehr, oder?«
Sein Lächeln gefror. »Nein. Die Klinke gibt’s nicht mehr. Bin sie schon vor langer Zeit losgeworden. Noch bevor du geboren wurdest.«
»Warum?«
»Ah, das ist eine schwierige Frage.«
»Und die Antwort lautet …?«
Mit gekonnt eingesetztem Seufzer des Psychologen sagte er: »Weil … weil ich es satthatte, die Vergangenheit ewig mit mir herumzuschleppen. Was ich während des Krieges erlebt habe – was ich erlitten und was ich getan habe –, konnte ich nach der Heimkehr nicht einfach ungeschehen machen. Gelegentlich drohten die Wut, die Schuldgefühle gegenüber der unschuldigen Familie Richter, die durch mein Zutun teilweise ausgelöscht worden war, und gegenüber Karl, mich fast aufzufressen. Irgendwann habe ich schließlich entschieden, die Vergangenheit als abgeschlossen zu betrachten.«
»Und?«
»Was und? Und das war’s.«
»Und die Türklinke?«
»Habe ich doch gesagt. Ich wollte die Schatten der Vergangenheit loswerden. Diese Türklinke war eben eines der Dinge, von denen ich mich befreien musste. Ich hatte mich lange daran geklammert, sie viel zu wichtig genommen. Das war falsch. Es war nur eine Türklinke – wenn auch aus dem Haus eines der berüchtigtsten Diktatoren dieser Welt. Aber was hat sie mir bedeutet? Nichts. Und das galt ebenso für die Last der Emotionen, die ich mit mir herumgetragen hatte. Eines Tages bin ich einen langen Pier am Hafen entlanggegangen und habe sie einfach in die Tillamook Bay geworfen. Klingt vielleicht dumm, aber für mich hatte diese Handlung eine geradezu reinigende Wirkung.«
Im Zimmer wurde es sehr still. Großvaters Blick schweifte zu Anna. Ich folgte ihm. Für eine kurze Zeit waren das Piepen und stimmlose Pfeifen des medizinischen Geräts die einzigen Geräusche. Großvater neigte leicht den Kopf in Annas Richtung. »Traumatische Erlebnisse können einen Menschen seelisch verkümmern lassen, Ethan, wenn man nicht angemessen damit umgeht. Das habe ich gelernt aus meinen lebenslangen Erfahrungen mit menschlichem Leid. Und ich habe gelernt, dass, egal wie schlimm die Dinge im Augenblick auch stehen mögen, alles eine Momentaufnahme ist. ›Alles geht vorüber‹, wie es so schön heißt. Was ich erlebt habe, war schrecklich. Aber ich habe überlebt.«
Ich spürte, wie mein Blutdruck stieg. »Ah, ich verstehe! Du hast deine ganz persönliche Tortur überstanden. Also muss ich das ebenfalls tun? Ist es das? Hast du deshalb nach all den Jahren entschieden, mir deine Geschichte zu erzählen? Du meinst, wenn ich weiß, wie es dir ergangen ist, kann ich das mit Anna leichter ertragen?«
»Ethan, es geht nicht darum …«
»Nicht darum, weshalb du mit deiner Holzkiste und deiner Kriegsgeschichte hier aufgekreuzt bist? Natürlich geht es darum. Warum sonst solltest du dir diesen Zeitpunkt ausgesucht haben, um von Konzentrationslagern und dem Krieg zu erzählen? Und sag jetzt nicht,
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