Lieblingslied: Roman (German Edition)
sei, bei ihnen aufzuwachsen. Und wie ich meiner Tochter erklären sollte, dass mein Verzicht auf lange Sicht gesehen ein Akt der Liebe und nicht Feigheit oder Egoismus war.
Ich begann, wie gesagt, meinen Vater täglich besser zu verstehen.
Abgesehen von meinem Bartwuchs änderte sich in den folgenden Wochen wenig in meinem Leben. Ich begann das Pflegepersonal zu hassen, denn sie waren mit nervenaufreibender Beharrlichkeit die Verkünder schlechter Nachrichten. Reg mochte ein netter Kerl sein, aber ich hatte absolut keine Lust, mit ihm über die »Eventualitäten« zu sprechen, die er so hartnäckig erwähnte. Besonders da ich Annas Patientenverfügung noch immer wie mein kleines Geheimnis hütete.
Gelegentlich prüfte ich die Datumsanzeige auf meinem Handy. Ich musste schließlich wissen, wie viel Zeit uns noch bis zu dem Ende jener vier Wochen blieb, die die Ärzte als magische Grenze und Auftakt für weitere Entscheidungen gesetzt hatten. Zwar verfolgte mich bezüglich Annas Patientenverfügung das schlechte Gewissen, doch loslassen mochte ich noch nicht. Das Dokument blieb weiterhin in meinem Aktenkoffer verborgen.
Zweiundzwanzig Tage nach dem Unfall tauchte Dr. Knight in ungewöhnlich zahlreicher Begleitung zur täglichen Visite in unserem Zimmer auf. Unter den Teilnehmern waren auch Dr. Gooding und Reg Wilson. »Gute Nachrichten«, begann Dr. Knight. »Dr. Gooding erklärt die inneren Verletzungen ihrer Frau als geheilt. Es hat zwar lange genug gedauert, aber die Lunge ist so weit wieder hergestellt. Wir sollten daher ausprobieren, ob das Organ auch ohne Atemgerät wieder seinen Dienst tut.«
»Aber das Dialysegerät bleibt?«
»Ja, das bleibt«, antwortete Dr. Gooding. »Es ist nicht absehbar, wann und ob wir es abschalten können. Falls Ihre Frau jedoch nicht mehr künstlich beatmet werden muss, können wir sie von der Intensivstation auf eine normale Station verlegen. Die Zimmer sind dort geräumiger und auch für Sie angenehmer.«
Ich stellte die Rückenlehne des Liegesessels in Sitzposition. »Weshalb sind Sie denn heute so zahlreich erschienen?«, wollte ich wissen.
»Reine Sicherheitsmaßnahme«, erwiderte Dr. Knight. »Ich möchte nichts riskieren – für den Fall, dass Ihre Frau auf das Abschalten der Geräte nicht wunschgemäß reagiert. Deshalb habe ich Unterstützung mitgebracht.«
»Aha«, bemerkte ich, stand auf und trat an das Bettende, wo ich niemandem im Weg stand. »Hoffen wir auf das Beste, und fürchten wir das Schlimmste?«
»Sie haben es auf den Punkt getroffen«, bemerkte einer der Assistenzärzte.
»Schlauer Schachzug«, murmelte ich leise.
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis die Beatmungsgeräte abgestellt waren. Die Ärzte warteten nach jedem einzelnen Handgriff, um sich zu vergewissern, dass Annas Körper positiv reagierte. Danach blieb Anna nur an das Dialysegerät und zwei Infusionen angeschlossen. Letztere dienten der künstlichen Ernährung und der Versorgung mit Medikamenten.
Nachdem man sich vergewissert hatte, dass Anna selbstständig atmen konnte, schoben zwei Schwestern sie mit ihrem Bett in ihr neues Zimmer. Ich blieb zurück, um meine Sachen zu packen. Reg leistete mir Gesellschaft.
»Sie sehen in letzter Zeit nicht besonders gut aus«, bemerkte er ohne Umschweife, als wir allein waren.
»Kann man sich nicht mal einen Bart wachsen lassen, wenn einem danach ist?«
»Ethan, es ist nicht nur der Bart. Es ist Ihre ganze Erscheinung – die Kleidung, das Haar, die Tränensäcke unter ihren Augen. Sie sehen müde aus. Nein, nicht nur das. Sie scheinen kapituliert zu haben!«
Ich griff nach meiner Reisetasche und dem Aktenkoffer. »Ach, finden Sie? Die Ärzte haben meine Frau gerade aus einem Zimmer, das sie nie gesehen hat, in ein Zimmer geschoben, das sie nie sehen wird. Wie soll man da nicht kapitulieren?«
»Ja, ich weiß. Sie machen eine schreckliche Zeit durch. Ich beneide Sie wirklich nicht. Und ich weiß nicht, ob es mir in Ihrer Situation nicht ähnlich erginge. Allerdings kommt es mir so vor, als täten Sie weder sich selbst noch Ihrer Frau einen Gefallen, wenn Sie vierundzwanzig Stunden und sieben Tage in der Woche hier herumhängen. Was ist mit Ihrer Tochter? Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
»Sie ist in guten Händen«, brauste ich auf. »Wir telefonieren täglich. Aber das geht Sie eigentlich wirklich einen feuchten Dreck an!«
»Ja, Sie haben recht. Es geht mich nichts an. Ich mache mir nur Sorgen. Das ist alles.«
»Wäre
Weitere Kostenlose Bücher