Lieblingslied: Roman (German Edition)
mir lieber, Sie würden sich weniger um mich als um meine Frau Sorgen machen. Sie braucht Hilfe. Nicht ich.«
»Ethan, das ist … Wir sind in Bezug auf Anna an einem Punkt angelangt, da können Ärzte nicht mehr viel tun. Die meisten physischen Verletzungen sind verheilt. Das Gehirn, das wissen wir doch beide, ist sehr viel komplexer … unberechenbar. Sie zeigt noch immer keinerlei Reaktionen. Und der Unfall ist jetzt drei Wochen her. Wenn ein Patient wieder gesund wird, dann sieht man normalerweise jetzt bereits deutliche Fortschritte.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass wir darüber nachdenken sollten, wie lange wir noch so weitermachen wollen. Wie lange soll Ihre Frau noch künstlich ernährt werden? Und wie lange wollen Sie übrigens noch an ihrem Bett sitzen und darauf warten, dass etwas passiert? Ich sage es nur ungern, aber Anna ist nicht die Einzige, die gegenwärtig im Koma liegt. Sie sollten sich mit dem Gedanken anfreunden, loszulassen, damit Sie und Ihre Tochter wieder ein normales Leben führen können.«
»Was Sie da andeuten, ist Mord«, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Und ich bringe meine Frau nicht um.«
»Sie verstehen mich falsch«, entgegnete Reg Wilson ruhig. »Ich will nur andeuten, dass Ihre Frau uns möglicherweise längst verlassen hat. Vielleicht sogar schon von Anfang an. Wir wissen es nur noch nicht. Annas Gehirn hatte mittlerweile Zeit, sich zu regenerieren. Aber leider sind keinerlei Fortschritte zu verzeichnen. Daher sollten wir uns überlegen, was das Beste, das Humanste für Anna wäre. Wie lange soll sie noch in diesem Zustand bleiben? Ein paar Wochen? Monate? Jahre?«
Ich dachte an die Patientenverfügung in meinem Aktenkoffer. Im Geiste wiederholte ich die juristischen Formulierungen, die Annas Wünsche für genau dieses Szenario vorgaben.
Einen Monat .
Ich sagte mir jedoch sofort, dass Anna damals keine Ahnung von der Wirklichkeit hatte. Ein Monat ist zu kurz !
»So lange, wie es eben dauert«, antwortete ich und wandte mich hastig zum Gehen.
»Ethan!«, rief Reg, bevor ich noch weit kommen konnte. »Sie haben Ihre Gitarre vergessen.«
Ich drehte mich nicht einmal um. »Können Sie behalten!«
Annas neues Zimmer war ein Eckzimmer am Ende eines Korridors. Das bedeutete, dass es zwei Fenster hatte und daher am Tag sehr licht und freundlich war. Für mich ein angenehmes Gefühl, aber Anna merkte nichts von alledem. Außerdem verfügte es über zwei Betten, was ein weiterer Fortschritt war. Die Schwestern sagten, ich könne im zusätzlichen Bett so lange schlafen, bis es in einem anderen Zimmer gebraucht werde. Allerdings glaubte niemand, dass es dazu in absehbarer Zeit kommen würde.
Als ich am Morgen nach unserem Auszug aus der Intensivstation aufwachte, lehnte Karls Gitarre in der Zimmerecke zwischen den beiden Fenstern. Ich hasste ihren Anblick. Sie erinnerte mich an alle meine Verfehlungen: nie der Songwriter geworden zu sein, wie ich es gewollt hatte; nie Anna den Song geschrieben zu haben, den ich ihr versprochen hatte; meiner Frau und Tochter nie mehr auf der Gitarre vorgespielt zu haben, weil ich zu viel gearbeitet hatte; mir nicht die Zeit genommen zu haben, Hope zum Geburtstag eine Gitarre zu kaufen, was letztendlich der Grund für den Zustand war, in dem Anna sich jetzt befand.
Wäre ich nicht so antriebslos gewesen, hätte ich Karl gepackt und ihn in einer Mülltonne hinter der Klinik ein für alle Mal entsorgt. Tief in meinem Inneren wusste ich vermutlich, dass ich es bereuen würde. Schließlich war Großvater durch die Hölle gegangen, um in ihren Besitz zu gelangen. Vielleicht war es das Beste, sie einfach in der Ecke stehen zu lassen.
In den Tagen kurz vor Ablauf der vier Wochen, die nach Annas Unfall verstreichen sollten, erreichte meine Psyche den absoluten Tiefpunkt. Vergleichen kann ich diesen Zustand nur mit jenen Albträumen, die ein Film bei mir auslöste, den ich von meinem Vater zu meinem dreizehnten Geburtstag geschickt bekommen hatte. Es handelte sich um den Horrorfilm Nacht der lebenden Leichen von 1968. Dem Film war eine Karte beigelegt. Darauf schrieb mein Vater, den Film habe er mit meiner Mutter bei ihrer ersten Verabredung gesehen (was vermutlich einiges erklärt) und dass ich ihn sicher mögen würde.
Ich mochte den Film überhaupt nicht. Wochenlang quälten mich böse Träume von hirnlosen Zombies, die Angst, Schrecken und Tod verbreiteten.
In jenen letzten Tagen im Krankenhaus fühlte ich mich wie
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