Lieblingsstücke
Horrorphantasien frei.
Ich lehne ab. Immerhin habe ich kein Gepäck. Das hat mein Koffer schlau gemacht. Da hat er sich einiges erspart. Zum Glück hat Sandy einen kleinen Stadtplan zur Hand und zeichnet mir freundlicherweise den Weg zur Vierzigsten Straße rein. Als ich mich bei Sandy bedanke und bei Rouven für sein Angebot, sagt er nur »Schade« und grinst. War das eine Art Kompliment? Ich denke ja und freue mich.
Sandy verabschiedet mich mit den Worten: »It’s quite a walk!«
Ein Kommentar, den ich nicht sonderlich ernst nehme, schließlich fahren die Amis, wie man bei uns ja weiß, jeden Meter mit dem Auto. Außerdem habe ich auf U-Bahn keine Lust. Ich habe mich heute schon genug gegruselt. Zwar ist U-Bahn schneller, aber so sehe ich immerhin was von der Stadt und dafür bin ich ja schließlich hier. Außerdem habe ich die Befürchtung, dass ich in der U-Bahn einschlafen könnte und wo ich dann versehentlich landen könnte, möchte ich gar nicht wissen. Ich habe kein Interesse an weiteren, entlegenen Stadtteilen von New York.
Als ich auf die Straße trete, fällt mir ein, dass meine Entscheidung, nicht hier zu bleiben, klug war. Sonst hätten mein Koffer und ich ja nie zueinander gefunden. Wenn er jemals auftaucht, wird er ja an das Hotel in der Vierzigsten Straße geliefert. Davon abgesehen, habe ich es, wenn man es genau betrachtet, ja gar nicht entschieden. Das war Sandy.
Es ist kalt in New York, aber immerhin trocken. Der eisige Wind zerrt an meinem kaffeebefleckten Kurzmantel und ich bin, wie meine Mutter so gerne sagt, mal wieder zu dünn angezogen. Mir ist kalt, aber ich fühle mich wacher. Das Laufen macht Spaß, jedenfalls die erste halbe Stunde. Ich laufe den Brooklyner Broadway entlang, und er hat wenig von dem, was ich mir unter einem Broadway vorgestellt habe. Es ist einfach nur eine sehr große Straße. Nach einer knappen Stunde habe ich endlich die Brücke überquert, die mich vom lockenden Manhattan getrennt hatte. Ich bin nicht über die Brooklyn Bridge, sondern, weil Sandy es mir empfohlen hat, über die Williamsburgh Bridge – eine gigantische Hängebrücke mit ebenso gigantischem
Verkehr. Hier zieht es nochmal mehr und mir ist dermaßen kalt, dass ich das Gefühl habe, mehrere Stunden in einer Tiefkühltruhe verbracht zu haben. Nach über zwei Stunden habe ich mein Hotel erreicht. Meine Finger sind klamm, aber ich bin glücklich. Weil ich endlich angekommen und weil ich gelaufen bin. Bei allem Frieren – es war berauschend. Wenn man mit diesen Heerscharen von Fußgängern, die erstaunlich flott über die Pflaster eilen, gemeinsam durch diesen Moloch strebt, hat man das Gefühl, Teil dieser Stadt zu sein. Dazuzugehören.
Ich beschließe, nochmal zu Hause anzurufen. Mal hören, ob sich Christoph gemeldet hat. Mein Vater muss ihn unbedingt unauffällig fragen, in welchem Marriott er genau wohnt. Ich Dummbatz hätte eben in Brooklyn auch mal fragen können. Nicht, dass der zwei Stockwerke über mir in einem warmen, kuscheligen Zimmer gesessen hat! Habe ich glatt vergessen. Genau wie den Anruf bei der Rupps. Rufe ich eben erst die Rupps an. Hier mitten in New York, nach dieser Odyssee mit dem Shuttlebus und meinem Fußmarsch, kann mir auch eine Frau Rupps keine Angst einjagen. Ich habe sowohl noch meine Handtasche als auch meine Nieren – was kann diese Frau mir also tun? Zunächst aber checke ich ein. Diesmal klappt alles. Ich habe tatsächlich ein Zimmer hier. Das Zimmer hat eine feine Dusche, und obwohl ich nach dem Duschen wieder in die gleichen, dreckigen Klamotten muss, geht es mir doch viel besser.
Jetzt ist die Rupps dran. Ich pumpe mich vor dem Gespräch ein bisschen auf. Man soll sich ja wappnen. Wenn die mir jetzt doof kommt, kann sie was erleben. Ich lege mir eine Strategie zurecht.
»Claudia ist, wie die meisten Mädchen in diesem Alter,
schon pubertär, das sollten Sie als ihre Lehrerin auch schon gemerkt haben.« Vielleicht sollte ich den Nebensatz besser streichen. Wer weiß, wie lange die noch die Rupps hat, und aus eigener Erinnerung weiß ich noch sehr gut, wie nachtragend manche Lehrer sein können. Manche Dinge muss man sich noch beim zwanzigjährigen Abiturtreffen anhören. Von Verjährungsfristen scheinen Lehrer noch nie was gehört zu haben. Mutig wähle ich die Nummer. Es klingelt ziemlich lange, und ich bin schon kurz davor, aufzulegen, als endlich jemand antwortet.
»Hallo«, kommt eine tiefe Stimme an mein Ohr. Das ist definitiv nicht die Rupps. Außer,
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