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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Tag gewichen, und im Raum schien es plötzlich kalt zu werden. Ich stand auf. Ich ging an die Tür und hämmerte dagegen. Ich zählte bis fünf. Ich hämmerte noch einmal.
    Nichts.

23
    »Stimmt es«, sagt der Junge Abass mit ruckelnder Stimme, während er auf dem Rücksitz des Wagens auf und ab hüpft, »dass die Zahl der Sterne am Himmel ›Unendlichkeit‹ ist?«
    Kai wirft ihm vom Fahrersitz aus einen Blick zu. »Niemand weiß, wie viele Sterne es am Himmel gibt. Niemand weiß, wo das Universum endet, also könnte man sagen, dass es eine unendliche Zahl von Sternen am Himmel gibt. Ja.«
    »Wie viele Nullen hat ›Unendlichkeit‹?«
    »Endlos viele.«
    »Endlos«, echot Abass, probiert das Wort für sich aus; starrt dabei aus dem Fenster, während sie an einer Palmenplantage entlangfahren. Seine Augen schalten zwischen einer Baumreihe und der nächsten hin und her, er fängt an zu experimentieren, macht mal das eine, mal das andere Auge zu.
    »Stell dir vor, du würdest versuchen, bis ans Ende der Welt zu fahren«, erklärt Kai weiter. »Du würdest nur immer im Kreis fahren, immer rundherum, du kämst nie ans Ende der Reise. Stell dir das in Nullen vor.«
    Eine Zeitlang schweigen sie alle drei. Adrian kann beinah die Rädchen der Vorstellungskraft des Jungen surren hören. Seine Gedanken wenden sich dem alten Mann im Krankenhaus zu, dessen Erinnerungen an den Mondspaziergang. Adrian war zehn, als der Mondspaziergang stattfand. Er erinnert sich, dass er bei seinen Großeltern war, auf dem Teppich saß und über die Länge des Couchtisches hinweg auf den Fernseher starrte. Seines Vaters Stimme, die die Bilder erklärte. Adrian zu sich rief. Damals war sein Vater noch gesund gewesen.
    »Als ich in deinem Alter war«, sagt Adrian, räuspert sich dann. Es ist eine Weile her, dass er zuletzt mit einem Kind gesprochen hat. Kai geht mit Abass ganz unbefangen um, behandelt ihn wie eine kleinere und verletzlichere Version seiner selbst. Es geht darum, den richtigen Ton zu treffen. »Ich meine, mein Vater hat mir mal erklärt, wie ich mir die Unendlichkeit vorstellen kann, und er sagte, das wäre die einzige Möglichkeit, sich ein ungefähres Bild davon zu machen.«
    »Was hat er gesagt?« Abass lehnt sich zwischen beiden Sitzen vor; er riecht nach Zitrone und Seife.
    »Er sagte, ich soll mir einen großen Felsblock vorstellen, tausend Meilen lang, tausend Meilen hoch und tausend Meilen breit.«
    »Das ist ein riesiger Block!«
    »Ein riesiger Block«, pflichtet Adrian ihm bei. »Okay, jetzt stell dir einen ganz kleinen Vogel vor, wie einen Spatz.«
    »Was ist ein Spatz?«
    »Na ja, irgendein beliebiger kleiner Vogel. Wie der da hinten!« Adrian zeigt auf eine Bewegung zwischen den Bäumen. »Jetzt stell dir vor, dass der Vogel alle tausend Jahre auf dem Felsen landet.«
    »Alle tausend Jahre?«
    »Ja. Und dann stell dir vor, dass er seinen Schnabel daran wetzt, einmal auf der einen, einmal auf der anderen Seite. Was glaubst du, wie lang würde es wohl dauern, bis der ganze Felsen vollständig abgewetzt ist?«
    Abass hüpft zwischen den Sitzen auf und ab. »Sehr, sehr, sehr lange!«
    »Ja. Nicht ganz ›Unendlichkeit‹, aber ganz dicht dran.«
    »Ja«, stimmt Abass ihm zu. »Bloß, dass der Vogel vorher sterben würde.«
    Kai und Adrian lachen.
    Die Straße macht eine Reihe von engen Abwärtskurven durch ein kleines Dorf und dann ein zweites. Hier sind die Häuser hoch, aus Holz, mit schmalen Fenstern und Schindeldächern, ganz anders als die Betonhäuser der Stadt und die Lehmziegelhütten in den Dörfern an der Straße, die zu Ileanas Bungalow führt.
    »Die allerersten westlichen Siedlungen«, sagt Kai. »Eine Kirche gibt’s auch noch. Durchaus sehenswert. Aber wir werden ein anderes Mal wiederkommen müssen. Wir haben eine lange Fahrt vor uns.«
    Die Straße fällt entlang der Talsohle ab und steigt dann wieder auf. Der Asphalt hat mittlerweile völlig aufgehört, es gibt nur noch eine holprige Lateritpiste und vereinzelte riesige Buckel, um die Kai den Wagen, einen dreißig Jahre alten gelben Mercedes, den er »Old Faithful« nennt, herumsteuert. Ein weißer Geländewagen rast an ihnen vorbei und wirbelt Wolken von rotem Staub auf, die vorübergehend jede Sicht rauben. In einem solchen Moment hätte Adrian möglicherweise angehalten, aber Kai fährt unbeirrt weiter. Der Hang des Hügels ragt auf einer Seite steil empor und fällt auf der anderen Seite ebenso steil wieder ab. Hier und da die glatten Narben von

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