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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Schritte vor, späht durch das spärliche Licht. Als die Gruppe näher kommt, erkennt er, dass es sich bei der Gestalt auf der Rollbahre in Wirklichkeit um zwei Personen handelt: einen Mann, der rittlings auf einem reglosen Körper sitzt. Der Mann drückt mit den Handballen, stützt sich mit seinem ganzen Gewicht – so sieht es jedenfalls aus – auf den Unterleib des Patienten. Der Patientin: Es ist eine Frau, unförmig schwanger.
    Jemand schreit den Befehl, anzuhalten. Vor Adrians Augen fährt der Arzt fort, sich auf die Frau zu stemmen, während er ihr gleichzeitig zuredet zu pressen. Es erscheint Adrian unvorstellbar, dass eine Frau in ihrem Zustand eine derartige Behandlung aushalten können soll. Sein Blick wird zum Kopf des Kindes gelenkt, der gerade eben sichtbar, halb in, halb außerhalb der Welt ist.
    Die einzige Geburt, die Adrian miterlebt hat, fand in einem Zimmer mit Blick auf die Themse und die Houses of Parliament statt. Nichts hatte ihn auf das Entsetzen vorbereitet – das er vergeblich zu verbergen versuchte. Er spürte, oder glaubte zu spüren, dass ihn die Vergebung seiner Frau vom Inneren ihrer Höhle aus Schmerz her erreichte. Später entstand in ihm ein nachträgliches Schuldgefühl, wie bei einem Soldaten, der dabei erwischt wurde, wie er vor feindlichem Feuer floh. Trotzdem, ob mit oder ohne seinen Mut, war es passiert. In dem einen Moment standen sie beide auf der einen Seite von etwas Gewaltigem. Im nächsten purzelten sie schon die andere Seite hinunter. Seine Tochter war geboren.
    Im halbdunklen Korridor, auf einer schmalen Rollbahre und mitten in der Nacht wird vor Adrians Augen wieder ein Kind geboren. Der auf der Frau reitende Arzt stößt ein letztes gewaltiges Mal zu. Gleichzeitig gibt die Frau ein langes tiefes Stöhnen von sich. Ein Schwall Flüssigkeit, das Kind gleitet heraus. Adrian schaut zu, wartet darauf, dass jemand vortritt und das Neugeborene hochnimmt, ihm einen Klaps auf den Po gibt oder es mit dem Mund beatmet. Die entsetzliche Reglosigkeit des Kindes, das da zwischen den Beinen seiner Mutter liegt. So wenig Adrian von solchen Dingen auch weiß, so viel weiß er: Das Leben, das gerade gerettet wird, ist das der Frau.
    Wieder in der Wohnung, lehnt er sich gegen den Türpfosten und entlässt den Atem aus seinem Körper, lauscht dem Geräusch der Bahre, die sich, langsamer jetzt, entfernt. Er zieht sein T-Shirt aus und kriecht wieder unter das Moskitonetz. Eine Zeit lang liegt er mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Hinter seinen Lidern läuft die Szene noch einmal ab: der Kopf des Babys, die Augen – geschlossen und friedvoll, als habe es einen Blick auf die Welt geworfen, in die es gerade treten wollte, und im letzten Moment seine Meinung geändert.
    Schlaflos jetzt, schaltet er zum zweiten Mal das Licht an und steigt aus dem Bett. In der Küche gießt er sich aus der Flasche im Kühlschrank ein Glas Wasser ein. Winzige rote Ameisen drängen sich um einen halben Keks auf einem Teller, um einen Fleck, verschütteten Guavesaft, wie Tiere um ein versiegendes Wasserloch. Er hebt den Teller auf; die Ameisen schwärmen über seine Finger aus und verabreichen ihm brennende Bisse. Er wirbelt herum, lässt den Teller in die Spüle fallen und hält die Hand unter den Wasserhahn, schaut zu, wie die zappelnden Ameisen in den Strudel gesogen werden.
    Im Wohnzimmer setzt er sich auf die zerbröselnden Schaumstoffpolster der Couch und nimmt sich ein Buch aus dem Fach unter dem Couchtisch. Es ist ein englischer Roman von der Sorte, wie man sie in der Schule liest, vom vorigen Bewohner zurückgelassen. Adrian schlägt es wahllos auf und fängt an zu lesen, kann sich nicht konzentrieren, verheddert sich in Wörtern und deren Bedeutung. Dann, noch bevor er das Ende des Absatzes erreicht hat, gehen die Lichter aus. Zunächst bleibt er sitzen, nicht hinlänglich motiviert, sich von der Stelle zu bewegen, gestattet sich, der Trägheit nachzugeben, und empfindet dies als tröstlich. Eine Minute vergeht, dann noch eine. Ihm kommt gerade der Gedanke, auf der Couch zu schlafen, als eine Serie von schnellen Klopfgeräuschen an der Tür ihn hochschrecken lässt.
    Der Mann vor der Türschwelle trägt grüne Krankenhauskleidung, darüber ein T-Shirt, an den Füßen Flipflops. Sein Gesicht ist im Dunkeln nicht zu sehen.
    »Hey«, sagt er.
    »Hallo.«
    »Tut mir leid, wenn ich Sie störe. Ich dachte, ich könnte hier ’n paar Stunden knacken, wenn Sie nichts dagegen haben.« Eine Pause. Der

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