Lied aus der Vergangenheit
artikuliert lautlos, während er gleichzeitig auf die Tür zeigt. Sie nickt. Draußen auf der Terrasse findet er einen Tisch mit Bierlache, zwei Plastikstühle. In dieser Höhe weht eine Brise. Die Musik hat eine erträglichere Lautstärke angenommen. Er betrachtet Ileana, die mit den Getränken auf ihn zukommt. In ihrer hochgeschlossenen geblümten Bluse, den weißen Socken und Sandalen könnte sie kaum deplatzierter wirken.
Plötzlich löst sich ein großer gut aussehender Mann in Schlabberjeans und übergroßem T-Shirt von der Wand und fängt sie ab, hält mit ihr Schritt, während sie weitergeht. Soweit Adrian erkennen kann, scheint er ihr etwas zuzuflüstern. Ileana antwortet, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Der junge Mann bleibt abrupt stehen und starrt ihr mit offenem Mund nach. Dann klappt er die Kinnlade wieder hoch, schnalzt so laut mit der Zunge, dass sogar Adrian es hören kann, dreht auf der Stelle um und kehrt zu seinen Kumpeln zurück. Adrian steht auf und nimmt Ileana die Gläser ab.
»Worum ging’s?«
»Er hat angeboten, es mir zu besorgen. Hat angeblich einen riesigen Schwanz. Nicht zu fassen, was?«
Für Adrian allemal. »Was haben Sie geantwortet?«
»Ich hab dankend abgelehnt. Und ihm gesagt, dass er wiederkommen kann, wenn er es schafft, seine Augenbrauen zu lecken. Noroc! « Sie hebt ihr Glas Jack Daniel’s.
Adrian, der schon etwas von seinem Glas getrunken hat, verschluckt sich um ein Haar.
Drinnen ist die Musik verstummt. Die Leute verlassen die Veranda und gehen, einzeln oder paarweise, wieder hinein.
»Sie fangen offenbar an«, sagt er. Er ist nervös, voll Erwartung.
Sie stehen auf und folgen den anderen Gästen hinein. Jetzt erst bemerkt Adrian eine kleine Bühne an der hinteren Wand. Musikinstrumente. Ein Schlagzeug. Eine Gitarre, an einen Stuhl gelehnt. Eine Klarinette. Der DJ spricht ins Mikrofon. Adrian versteht nicht, was er sagt, er hört nur die Dramatik in seiner Stimme. Um Adrian herum fangen Leute an zu klatschen. Drei Männer und eine Frau betreten die Bühne. Sie ist es. Adrian schließt die Lippen, vergisst einmal einzuatmen und holt beim nächsten Atemzug umso tiefer Luft. Sie trägt ein Wickelkleid aus dem gleichen bedruckten Stoff wie die Hemden der Männer. Ihre Schultern sind nackt, ihre Haare straff nach hinten gebunden. Sie stellt sich nicht ans Mikrofon, wie er erwartet hatte, sondern geht auf die andere Seite der Bühne und hebt die Klarinette auf. Einer der Männer stellt sich ans Mikrofon und fängt an, aufsteigende Tonfolgen zu summen. Die Klangintensität ist gewaltig, versetzt jeden Körper in Resonanz. Minuten scheinen zu verstreichen. Der Klang wird lauter. Dann setzt die Klarinette ein. Schließlich auch die Gitarre und das Schlagzeug. Doch es ist die Klarinette, die sich, der menschlichen Stimme so ähnlich, über die anderen erhebt. Der Frontmann tritt an das Mikrofon und beginnt zu singen. Später würde Adrian Schwierigkeiten damit haben, den Stil der Musik zu beschreiben, ob eher Jazz oder Soul, nur ihre Stimmung kann er fassen. Sie verlangsamt seinen Herzschlag, sein Geist wird davon emporgehoben und fortgetragen, nur um abgesetzt und wieder aufgehoben zu werden. Niemand tanzt, alle hören nur zu. Am Ende jedes Lieds schwebt der Klang des letzten Akkords über den Köpfen des Publikums fort und geht erst im Applaus unter. Die Combo geht von einem Stück direkt zum nächsten über. Drei Lieder insgesamt. Er beobachtet sie die ganze Zeit, den spitzen Winkel ihres Ellbogens, die Bewegungen ihrer Handgelenke und Finger, die Art, wie das Mundstück auf ihrer Unterlippe ruht. Ihre Spielweise ist unaufdringlich, sie macht keine Schau daraus, schließt nicht die Augen oder wiegt sich. Nur eine Ferse, die den Takt auf den Holzboden klopft. Von Zeit zu Zeit hebt sie die Augen und wirft einen abschätzenden Blick über die Menschenmenge. Einmal sieht sie ihn, meint er, und scheint zu lächeln. Der Sänger beugt sich wieder zum Mikrofon, bedankt sich mehrmals leise, stellt die Bandmitglieder einzeln vor. Bei jedem Namen ertönen Klatschen und Pfiffe. Sie hält sich die Klarinette vor den Bauch. Als sie an der Reihe ist, führt sie das Mundstück an ihre Lippen und spielt ein paar Töne eines Solos. Drei weitere Stücke. Und dann ist es vorbei. Die Leute schlendern wieder nach draußen. Die Band geht. Die Instrumente bleiben auf der Bühne.
Zehn Minuten. Adrian hat die Tür zum Klub praktisch ununterbrochen im Auge behalten. Endlich kommen die
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