Lied aus der Vergangenheit
nächsten Tag wurde sie mir zugeteilt. Offenbar waren alle anderen voll ausgelastet. Ich freute mich wie ein Schneekönig. Patienten bekam ich noch immer nur unter Aufsicht zu sprechen. Ich hungerte nach einem richtigen Fall.
Sie war jung. Vielleicht ein paar Jahre jünger als ich. Sie stand wegen Suizidgefahr unter Beobachtung. Ich meine, das war schon ganz was anderes, als Anstaltsinsassen beizubringen, wie man Einkaufsnetze knüpft und Geschirrtücher säumt. Ich fasste es als Zeichen dafür auf, dass mein Mentor an mich glaubte.« Ileana stellt eine Kanne Tee, dazu zwei geblümte Porzellantassen und eine Schachtel Zuckerwürfel auf den Schreibtisch. »Sie wurde massiv unter Medikamenten gehalten. Ich habe mich praktisch von Anfang an dafür eingesetzt, dass ihre Dosis runtergesetzt wurde. Danach fing sie an, Fortschritte zu machen. Sie war intelligent, gebildet. Unter anderen Umständen hätte sie meine Freundin sein können. Zucker?«
Adrian schüttelt den Kopf.
»Als ich am nächsten Tag kam, war sie nicht mehr da. Sie war verlegt worden. Völlig über meinen Kopf hinweg. Weg. Sie hatten ihr Bett schon jemand anders gegeben.«
»Jesus!«, sagte Adrian. »Was steckte dahinter?«
»Man hatte mich benutzt. Sie war eine politische Gefangene. Von uns wurde sie in eine Hochsicherheitsanstalt verlegt, wo sie als paranoid diagnostiziert wurde. Jeder im Land wusste, was los war, aber alle taten so, als wäre alles in bester Ordnung. Und die, die es nicht schafften, den Schein zu wahren, wurden weggesperrt.« Sie lacht, und Adrian lächelt. Ileana hebt ihre Teetasse. »Auf Nina. Bissiges kleines Biest, mit der Seele eines Straßenköters. Hat mich mehr als ein Mal gebissen. Ich hatte sie am Strand gefunden, habe ich Ihnen das je erzählt? Habe sie mit Dosenlachs verführt.« Sie seufzt. »Ich habe sie geliebt.«
»Auf Nina«, pflichtet Adrian bei. Der Tee verbrennt ihm den Gaumen. Er fragt: »Ist das der Grund, warum Sie Bukarest verlassen haben?«
»Mehr oder weniger. Die Sache ist die, dass ich kurz darauf keinen Job mehr hatte. Keiner von uns.«
»Wie das?«
»Ceau s¸escu entschied, wir seien Kollaborateure ausländischer Spionagedienste. Er steckte eine Menge Leute ins Gefängnis. Belegte die ganze Disziplin mit einem Berufsverbot.«
»Aber Sie nicht?«
»Ich war ein zu kleiner Fisch. Ich zählte nicht.«
»Was haben Sie da gemacht?«
»Ich habe als Putzfrau gearbeitet, bis meine Familie die Ausreisegenehmigung gekriegt hat. Wir gruben eine jüdische Großmutter aus, eigentlich eine tote Stiefgroßmutter. Wir haben sie benutzt, um nach Israel auszuwandern.« Wieder hebt sie ihre Tasse. »Auch auf sie. Wo immer sie gerade sein mag.«
»Sind Sie seitdem je wieder zurück? Nach Bukarest?«
»Ein Mal. Das hat mir gereicht.«
Er schweigt. Sie steckt sich eine weitere Zigarette an und verschwindet kurzzeitig hinter dem Rauchvorhang. »Meine Angehörigen, diejenigen, die noch immer dort wohnten, wollten nicht über die Vergangenheit reden. Alles, was sie wollten, waren Armbanduhren, Fernsehgeräte, Videorekorder. Nicht einer von denen hat einen Finger krumm gemacht, um mir zu helfen, als ich meine Stelle verloren habe. Scheiß drauf! Kommen Sie!« Sie drückt ihren Zigarettenstummel auf einer Untertasse aus und streift den Griff ihrer Handtasche von der Rückenlehne ihres Stuhls. »Verschwinden wir hier. Ich spendier Ihnen einen Drink. Nein, besser noch. Ich spendiere Ihnen den morgigen Kater.«
Irgendwie landen sie, nachdem sie in einigen Bars am Weg Zwischenstopp gemacht haben, im Ruby Rooms. Sobald er das Lokal betritt, begreift Adrian, warum ihm der Name so bekannt vorgekommen war. Die Nischen, der weinrote Teppichboden und die kompakte Tanzfläche, die Terrasse mit Blick auf die Hügel – das Lokal ist genau so, wie Elias Cole es in seinen Erzählungen geschildert hat, zu der Zeit, als es noch Talk of the Town hieß.
Ileana steht an der Bar und bestellt Drinks. Auf Krio mit rumänischem Akzent, schreiend, damit der Barkeeper sie bei dem Lärm versteht. Er kann sich nicht vorstellen, dass Lisa sich je so verhalten, oder sich auch nur bereit erklären würde, ein solches Lokal zu betreten. Der Bassbeat hämmert in Adrians Eingeweiden. Es sind Leute auf der Tanzfläche, dunkle Silhouetten, vom Stroboskop grell umrissen. Ein DJ , eingesperrt wie ein Vogel in einer winzigen Kabine über den Tanzenden, sagt jedes neue Lied an. Gerüche: Schweiß, Bier und Trockeneis. Er fängt Ileanas Blick auf,
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