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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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eingeschlafen. Da wusste ich, dass ich wirklich wach war.«
    Der alte Mann wendet sich von Adrian ab und hin zum Fenster. Draußen hat sich ein zweiter Drachen im NATO -Draht verfangen. Obwohl kein Lüftchen weht, flattern seine Flügel aus schwarzer Kunststofffolie wie die Schwingen eines Vogels.
    »Der Drang, Erinnerungen zu ordnen, kommt mit dem Alter. Ein letztes Sichten und Sortieren und Katalogisieren. Um alles geordnet zu hinterlassen.« Eine Pause. »Damals waren wir Geschöpfe der Luft. Julius mehr als jeder andere von uns.«
    2 . August 1969
    Am Samstag rief mich der Dekan an. Er bat mich, Saffia abzuholen und sie zu Johnsons Dienststelle zu bringen. Ich stellte keine Fragen und tat wie geheißen. Wir trafen voller Hoffnung ein, Julius würde jetzt entlassen werden – wenngleich Saffia, als Versicherung gegen übermäßigen Optimismus, ein Köfferchen mit sauberen Sachen für ihn dabeihatte. Wie lange genau wir warteten, weiß ich jetzt nicht mehr. Von Johnson, den wir beide zu sehen erwarteten und inständig nicht sehen zu müssen hofften, keine Spur. Wir warteten im dritten Stock, wo der wachhabende Beamte sich weigerte, den Handkoffer anzunehmen, was unseren dürftigen Hoffnungen minimalen Auftrieb verlieh. Also saßen wir da und starrten auf die verschrammten grauen Wände. Der Beamte legte ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket auf den Tresen und forderte Saffia auf, den Empfang zu quittieren. Sie schrieb ihren Namen auf. Merkwürdig, welche Details einem nach so langer Zeit noch gegenwärtig sind. Ich erinnere mich an ihre Unterschrift, besser gesagt das Nichtvorhandensein einer solchen. Ich hatte ihre Handschrift noch nie gesehen. Klar, leserlich, fast schulmädchenhaft, ohne alle Schnörkel.
    Saffia öffnete das Paket. Es enthielt Julius’ Armbanduhr. Sein Taschentuch. Seine Brieftasche. Zwei Bolzen, eine Unterlegscheibe und eine schwere Schraube: Julius’ Taschenmurmeln. Sein Asthmapräparat ebenfalls. Er sollte es eigentlich immer dabeihaben, vergaß es aber oft. Etwas zu Unbedeutendes, als dass es Platz in seiner titanischen Vorstellungskraft gefunden hätte.
    Durch ein Versehen wurden wir in das Untergeschoss des Gebäudes geführt. Drei Treppen hinunter und dann noch eine, einen Korridor entlang, einen grau gestrichenen Tunnel. Dort war es kühl, Feuchtigkeit hing in der Luft. Der Beamte öffnete die Tür zu einem Zimmer.
    Mit welcher Arglosigkeit traten wir ein. Welcher Unschuld. Wir dachten, es sei ein Warteraum, verstehen Sie. Ich redete, was sagte ich noch mal? Ich glaube, ich fragte den Beamten, ob Johnson herunterkommen würde. Ich blieb stehen, als Saffia das Paket fallen ließ und eine Schraube über den Fußboden kullerte. Ich bückte mich, um sie einzufangen, verfolgte sie mit den Fingern. Als ich mich wieder aufrichtete, war Saffia am anderen Ende des Zimmers. Ich schaute hinüber und sah, was sie gesehen hatte. Ich ging auf sie zu.
    »Nicht!« Aus irgendeinem Grund war es das Einzige, was mir in dem Moment einfiel. »Nicht.« Als könnten wir einfach rausgehen, die Tür dieses engen Zimmers schließen und dem, was sich darin befand, den Rücken zukehren. Und dadurch verhindern, dass es je Wirklichkeit werden würde.
    Sie hörte mich nicht.
    Sie streckte die Hand aus und zog das Laken zurück.
    Wenn Leute solche lebenverändernden Augenblicke schildern, sagen sie oft, dass alles plötzlich wie in Zeitlupe erscheint. Wie wahr das ist. Vermutlich der hilflose Versuch des Gehirns, die Ungeheuerlichkeit des Augenblicks zu fassen. Anschließend bleiben einem nur Fragmente. Die auf der Rollbahre liegende Gestalt. Saffias Hand vor ihrem Mund. Julius’ Gesicht, die Augen halb offen, die Pupillen nicht stumpf, sondern leuchtend, sodass es so aussah, als schaute er an uns vorbei zur Tür, als wartete er darauf, dass jemand anders hereinkam.
    Kein Laut außer dem Hämmern meines Herzens.
    Welch eine entsetzliche Reglosigkeit herrscht, sobald die Wärme und das Licht einen Körper verlassen haben! Die Totenmaske, der Ausdruck purer Gleichgültigkeit, der dir, dem Lebenden, gilt. Saffia legte die Hand an Julius’ Wange, nahm sie wieder weg und taumelte nach hinten, sodass sie mit mir zusammenstieß. Ich versuchte und schaffte es nicht, sie zu halten. Aus derselben Bewegung heraus fiel sie plötzlich vornüber, riss das Laken vom Leib ihres Mannes und presste die Stirn gegen seine Brust. Sie fing an, sein Gesicht zu küssen. Sie flehte ihn an aufzuwachen. Immer drängender küsste sie

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