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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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ihn und schüttelte ihn bei den Schultern. Sie richtete sich auf, ließ ihre Tränen auf Julius’ Gesicht zurück. Sie fing an, seinen Körper zu untersuchen, offenbar nach einem Hinweis darauf, was oder wer ihm das angetan hatte.
    Was der Beamte die ganze Zeit tat, weiß ich nicht. Sagte er irgendetwas? Versuchte er einzugreifen? Ich glaube nicht. Wahrscheinlich hatte er mittlerweile die Tragweite seines Irrtums erkannt. Ich nahm ihn während dieser ganzen Zeit überhaupt nicht wahr. Ich frage mich jetzt, ob ich mich auch nur an sein Gesicht erinnern könnte. Dafür registrierte ich, dass Julius dieselben Kleider trug, die er in der Nacht der Mondlandung angehabt hatte. Und dass Saffia jetzt sein Hemd aufknöpfte, das Gesicht gegen seinen noch immer mächtigen Brustkorb presste, murmelte: »Geh nicht dorthin, Liebling, bitte. Es ist zu dunkel. Zu dunkel. Bleib bei mir.« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über seinen nackten Bauch, seine Brust, sein Schlüsselbein und die Arme hinunter. Sie nahm seine Hände in die ihren, tastete seine Finger ab und hielt sie sich ans Gesicht. Sie beugte sich über ihn und musterte seine Flanken. Aber da war nichts, keine Wunde, kein Bluterguss, weder ein Bruch noch eine Verbrennung.
    An das alles erinnere ich mich, grelle Splitter, nur Saffias Wehklagen, sonst Stille. Von einem plötzlichen Tumult unterbrochen. Schritte auf dem Korridor. Johnson, der den Empfangsbeamten anschrie. Seine vergeblichen Versuche, Julius’ Gesicht mit dem Laken zuzudecken. Die Wut, mit der sich Saffia auf Johnson stürzte, ihn mit Fäusten traktierte. Johnsons Fassung dahin.
    Es machte mir Freude, ich gestehe es, ihn endlich demontiert zu sehen.
    Trauer hat ihren eigenen Rhythmus. Wie der erste Regen nach der Trockenzeit. Anfangs versagt er, gleitet vom Erdreich ab, perlt davon im Staub des Unglaubens. Doch jeder Tag bringt neuen Regen. Saffia tat, was von ihr erwartet wurde. Leute kamen, um ihr Beileid auszusprechen, die Frauen setzten sich zu ihr, die Männer brachten Geldgeschenke für das Begräbnis und die Sieben- und die Vierzig-Tage-Feier. Ich war da und half, wo immer ich konnte. Der Imam gab sich die Ehre. Wie sehr hätte das Julius in Rage gebracht! Saffia saß bei den Frauen. Sie trug ein Gewand aus schlichter schwarzer Baumwolle, ihr Haar war unter einem schwarzen Kopftuch versteckt. Keine Schminke und keinerlei Schmuck – kein Armreif, keine Halskette, kein Ring, abgesehen von ihrem goldenen Ehering. Sie war schön. Sie belohnte meine Bemühungen, mich nützlich zu machen, mit einem jenseitigen Lächeln. Ich sage »jenseitig«, weil Saffia in dem Augenblick, als sie in dem grauen Gebäude das Laken von Julius’ Antlitz gehoben hatte, in eine Landschaft getreten war, die niemand außer ihr selbst bewohnte.
    Die Studenten kehrten allmählich von den Ferien zurück – wie Vögel, die sich nach einem langen Zug einzeln und zu zweit niederlassen und versammeln, einander vom Vorjahr her wiedererkennend.
    An dem Tag, an den ich gerade denke, rief mich der Dekan in sein Büro. Ich öffnete die Tür und sah ihn am Fenster stehen, von wo aus er, wie mir jedenfalls schien, gern sein Reich überblickte. Nur dass seine Aufmerksamkeit diesmal auf etwas ganz Bestimmtes gerichtet zu sein schien.
    »Kommen Sie her«, sagte er, ohne den Blick vom Fenster zu wenden.
    Ich folgte seiner Aufforderung.
    »Was ist das?«
    Ich sah hinunter. Der Hof war voll von Studenten, Hunderten von ihnen. Sie waren alle weiß gekleidet, die Jungen in Hemd und Hose, die Mädchen in Kleidern. Manche hatten ihr Haar bedeckt. Es war schwierig zu erkennen, was sie da taten. Wenn das eine Demonstration war, wo blieben die Plakate?
    »Gehen Sie runter und stellen Sie fest, was da los ist«, sagte der Dekan.
    Ich wurde in Saffias Haus – Saffias Haus, wie schnell hatte ich mich daran gewöhnt, es bei mir als solches zu bezeichnen! – erwartet, in weniger als einer Stunde, denn es war der Tag von Julius’ Vierzig-Tage-Feier. Ich hatte Saffia bei den Vorbereitungen geholfen, und es widerstrebte mir, mich in etwas verwickeln zu lassen, was mich aufhalten konnte. Ich ließ meinen Blick über die Köpfe der versammelten Studenten gleiten. Es kamen dauernd neue hinzu. Aus keinem besonderen Grund blieben meine Augen an einem bestimmten Studenten haften, einem Jungen. Vielleicht weil er mehr oder weniger allein auf der Außentreppe der Bibliothek saß. Sein Profil hatte etwas Vertrautes, selbst aus diesem Blickwinkel. Ich erkannte ihn als

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