Lied aus der Vergangenheit
Bedingung für ihre Aussöhnung verlangt, dass er eine Möglichkeit fand, wieder zu arbeiten. Jetzt ist er hier, fern von daheim, und operiert, wofür er noch immer gebraucht wird. Seine Frau bleibt zu Hause, hat mit ihren Enkelkindern, Einladungen und Zeichenkursen alle Hände voll zu tun. Seligmann ruft sie täglich an, kehrt nie für mehr als zwei Wochen am Stück heim. So sind beide zufrieden.
Erschöpft. Trotzdem wollte Kai nicht nach Hause fahren, wo die Gemeindeversammlung in vollem Gange sein würde. Er hat bei Adrian vorbeigeschaut, die Wohnung leer vorgefunden, hat geduscht und seine Straßenkleidung wieder angezogen, im Kühlschrank gekramt. Nichts. Zu faul, jemanden loszuschicken und sich was zu kochen, und nicht in der Stimmung für die Kantine, hat er schließlich beschlossen, nach Hause zu fahren.
Der Verkehr schleppt sich dahin, der poda poda, in dem Kai sitzt, kriecht zentimeterweise um einen Artgenossen herum, der mitten auf der Straße verreckt ist. Der Verkehr wälzt sich an beiden Seiten daran vorbei, wie ein träger Fluss um einen Felsen in der Strömung.
Irgendwann nach acht schleicht sich Kai durch das Tor und erreicht unbeobachtet die hintere Tür. Er holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und geht damit auf den Hof, wo er sich im Halbdunkel hinsetzt. Von der vorderen Veranda dröhnen die Worte des Predigers herüber, hochtrabend und hohl. Er kann den Prediger förmlich vor sich sehen: Eierkopf, kurzsichtige Augen, gestreifter Anzug, lederbesohlte Schuhe. Der Schwarm seiner Cousine. Er trinkt einen Schluck Bier. Es ist warm und prickelnd. Er kratzt sich die Kopfhaut, die jetzt angefangen hat zu jucken, und klatscht eine Mücke platt. Er leert die erste Flasche Bier und macht sich auf die Suche nach einer weiteren. Schon nach wenigen Minuten ist die zweite Flasche halb leer. Er holt einen Kassettenrekorder aus seinem Zimmer, setzt sich damit unter die Bananenstaude und lässt das Band zurück- und dann vorwärtssurren, auf der erfolglosen Suche nach einem Lied, das seiner Stimmung entspräche.
Plötzlich steht Abass, in seiner Pyjamahose, vor ihm.
»Rat mal, was ich heute gesehen hab«, sagt der Junge.
»Jetzt nicht, Abass.« Er nimmt einen Schluck aus der Flasche. Der Hunger ist von Durst verdrängt worden.
Abass gibt nicht auf. »Ich hab fünfzig orangene Affen gesehen, die sind zur Schule gekommen.«
»Ich hab gesagt: jetzt nicht!« Die Worte kommen schneller und schroffer, als Kai beabsichtigt hat. Er sieht, wie der Junge blass wird. Abass erstarrt, seine Kinnlade hängt herunter, der Überrest eines Lächelns auf den Lippen, die Augen feucht glänzend. Er weiß nicht, ob sein Onkel scherzt. Kai sitzt weiter so da, die Augen auf den Hals seiner Bierflasche gerichtet, und atmet heftig, um eine plötzliche unaussprechliche Wut unter Kontrolle zu bekommen. »Geh ins Bett. Mach schon«, sagt er mit leiser Stimme.
Als er wieder bei Besinnung ist, ist es schon zu spät. Der Junge ist weggelaufen. Er hat sein drittes Bier in Arbeit, als er sich an den Mann mit dem Spinaltrauma erinnert. Die Angehörigen haben bestimmt darauf gewartet, mit ihm sprechen zu können, und er hat es vergessen.
Die fünfte Flasche Bier, und er ist betrunken. Und noch immer nicht reif fürs Bett.
29
»Letzte Nacht habe ich von Julius geträumt«, sagt Elias Cole. »Wir waren an einem großen geräumigen Ort, wie einem Bahnhof oder einer Aula. Es war einer dieser ständig wechselnden Räume, die in Träumen vorkommen. Dort, inmitten der Leute, war ich sicher, dass er es war. Julius. Doch was tat er dort? Ich versuchte, mich zu ihm durchzukämpfen, aber je mehr ich mich vordrängte, desto dichter schien die Menschenmenge zu werden. Ich versuchte, seinen Namen zu rufen, brachte aber nur ein schwächliches lachhaftes Quieken heraus. Plötzlich war ich an einem anderen Ort. Ich ging eine Straße entlang. Es dämmerte, aber ich hatte ein Gefühl von Weite, wie von offenen Feldern zu beiden Seiten. Vor mir sah ich Julius. Diesen charakteristischen Gang, diese aneinanderreibenden Oberschenkel. Ich rief: ›Julius!‹ Ich wollte ihn fragen, was er da macht. Doch er ging immer weiter von mir weg, mit langsamem Schritt, während er gleichzeitig in kurzer Zeit eine große Entfernung zurückzulegen schien. Ich rannte, doch er ließ mich hinter sich zurück.«
»Und was ist dann passiert?«, fragt Adrian.
»Dann bin ich aufgewacht. Oder habe geträumt, ich würde aufwachen. Als ich später aufwachte, war mein Arm
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