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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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Wahrscheinlich Querschnitt unterhalb von Th 8 . Durch Röntgen zu bestätigen.
    »Soll ich ihn aufnehmen?«, fragt die Schwester.
    Kai schüttelt den Kopf. »Bitten Sie um sein Einverständnis, dass wir seine Angehörigen rufen. Jemand wird es ihnen erklären müssen.« Er atmet aus. Das hasst er am meisten. »Und ihm auch.« Er übergibt ihr das Einweisungsblatt. Sie nimmt es entgegen, ohne die Augen zu heben.
    »Wer wird es ihnen erklären?« Zweifellos befürchtet sie schon, dass die Aufgabe an ihr hängen bleibt.
    »Ich mach das. Rufen Sie mich, wenn die Röntgenaufnahmen fertig sind. Sonst sehe ich nach der OP noch mal nach.«
    Draußen ruft er Mr Sesay aus. Der Bauführer tritt vor und nimmt seine Wollmütze ab. Kai erklärt ihm – so, dass er es hoffentlich versteht – die Natur der Verletzung. Der Bauführer ist nicht dumm. Er hat einen Arbeiter verloren. Er hört aufmerksam zu, schüttelt den Kopf, verspricht, die Angehörigen selbst zu holen. Er steht noch immer da und hält sich an seiner Wollmütze fest, als Kai wieder weggeht. Kai denkt an all die Dinge, die er dem Mann nicht gesagt hat. Insbesondere an Mrs Maras Entscheidung, keine Spinaltraumapatienten mehr aufzunehmen. Früher hatten sie Männer monatelang am Leben gehalten, nur damit sie wenige Wochen nach ihrer Entlassung in ihrenBlechhütten starben, weil dort keiner die Zeit oder die nötigen Kenntnisse hatte, sie zu pflegen, mit ihrer Inkontinenz klarzukommen, sie mehrmals am Tag umzudrehen; das Geld hatte, um Katheter und sonstiges Material zu kaufen. Besser, sie früher als später sterben zu lassen – brutal, aber wahr. Er überlegt, wie viel er den Angehörigen sagen soll, ob er sich darauf beschränken soll, ihnen zu erklären, wie sie für ihren Vater sorgen können, und ansonsten auf das Unvermeidliche warten. Die Druckgeschwüre sind das Schlimmste an der ganzen Sache. Mit etwas Glück wird ihn eine Lungenentzündung vorher erledigen. Kai wirft einen Blick auf seine Uhr. Er muss sich beeilen, wenn er für den Anfang der OP bereit sein will. Wenn sie die Zeitnische verpassen, müssen sie am Ende einen neuen Termin festlegen.
    Im OP-Saal sind schon alle bereit. Foday ist heruntergekarrt worden und liegt, einen Arm an den Blutdruckmonitor angeschlossen, schon auf dem Tisch. Er liegt auf dem Rücken, von seinem massigen Brustkorb überragt, die muskulösen Arme wie bei einem Kruzifix ausgebreitet. Sein Penis liegt auf einer Seite, seine rasierten Hoden ruhen im Nest kräftiger Oberschenkel, die sich zu unterentwickelten Waden verjüngen, eine verkrümmt, eine mittlerweile gerade, bis hinunter zu den verrenkten Fußknöcheln. Am Leuchtkasten an der Wand Röntgenaufnahmen ebendieser Froschbeine. Kai wünscht Foday einen Guten Morgen, wird mit einem Lächeln belohnt, wortlos und heiter. Fodays Zuversicht sollte ermutigend wirken. Stattdessen spürt Kai, wie sich sein Magen verkrampft. Das Team ist dasselbe wie das letzte Mal. Seligmann, der Chefchirurg. Kai. Die Anästhesistin, Salamatu. Alle da, außer Wilhemina. An ihrer Stelle die Schwester, die ihn in die Notaufnahme gerufen hat. Sie ist gerade damit beschäftigt, Fodays Körper mit sterilen Tüchern abzudecken, ihn in den Zustand des Anstands zurückzuversetzen. Ihre Hände arbeiten schnell, professionell, ihr Gesicht ist ernst. Sie ist jetzt die einzige verbliebene OP-Schwester. Kai nimmt vom Instrumentenwagen eine Nierenschale mit Wasser, Jodtinktur und Ampicillin und beginnt, Fodays Bein damit zu betupfen. Seligmann fotografiert Fodays linkes Bein. Er tritt näher, verändert die Lage des Beins und tritt wieder zurück, um die Aufnahme zu machen. Das Blitzlicht prallt von den weißen Wänden ab, veranlasst Foday, den Kopf zu heben.
    »Foto«, erklärt Salamatu. Sie schiebt ihm eine Nadel in den Arm. Sie greift nach oben zum Infusionsschlauch und injiziert eine Flüssigkeit.
    »Passfoto«, sagt Kai. »Für Ihre Hochzeitsreise.«
    Foday rollt den Kopf in Kais Richtung und grinst ihn an. Er scheint etwas entgegnen zu wollen, als seine Augen blicklos werden, die Lider sich flatternd schließen.
    »Gut«, sagt Seligmann und legt den Fotoapparat hin. Er mustert Foday.
    Sie können anfangen. Die Schwester strafft das Tourniquet um Fodays Oberschenkel.
    »Ober- oder unterhalb?«, fragt Seligmann. »Unter- oder oberhalb?«
    Sie legen den Eintrittspunkt fest, einigen sich darauf, unterhalb des Muskels einzudringen. Seligmann nimmt den ersten Einschnitt vor. Blut quillt aus der Wunde.

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