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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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»Tourniquet«, sagt er. Die Schwester dreht das Tourniquet noch enger. Derweil steht Kai mit dem Diathermiestab bereit, schaut nach unten. Die Spitze des Stabs bewegt sich. Er atmet rasch tief ein, versucht, seinen Arm und seine Hand zur Ruhe zu bringen, um die unwillkürliche Bewegung des Elektrodenstabs zu unterbinden. Er schaut auf, um zu sehen, ob jemand etwas gemerkt hat. Die Schwester ist mit dem Tourniquet beschäftigt. Seligmann wartet darauf, den Einschnitt fortsetzen zu können. Salamatu sitzt neben Fodays Kopf. Keiner von ihnen schaut in seine Richtung. Kai spannt seinen Arm an und senkt dabei den Elektrodenstab unter die Höhe des Tisches. Er zählt und atmet. Eins, zwei, drei. Es hat früher schon funktioniert. Er konzentriert seine ganze Energie darauf, Hand und Arm zur Ruhe zu bringen. Das Schwanken hat aufgehört, aber die Spitze des Stabs zittert noch immer. Er kann nichts dagegen unternehmen. Jeden Augenblick kann Seligmann ihn auffordern, mit der Kauterisierung der durch den Schnitt geöffneten Blutgefäßenden zu beginnen. Die Schwester hat das Tourniquet fixiert und nimmt jetzt ihren Platz neben Seligmann ein. Seligmann senkt den Kopf, korrigiert die Haltung seiner Finger am Skalpell und schickt sich an, von Neuem zu beginnen.
    »Tut mir leid«, sagt Kai. »Können Sie mich für einen Augenblick entschuldigen?«
    »Was?« Über Fodays Bein gebeugt, schaut Seligmann ungläubig zu ihm auf. »Machen Sie Witze?«
    »Ja. Ich meine, nein. Tut mir leid.« Er bedeutet der Schwester, zu kommen und ihm den Diathermiestab abzunehmen. »Ich muss raus.«
    »Was ist los?«
    Kai verdreht die Augen. »Hab gestern Abend in der Beach Bar gegessen.«
    Seligmann prustet ein ersticktes Lachen in seinen Mundschutz hinein. »Dann sind also nicht mal die Einheimischen immun. Pech. Gehen Sie! Gehen Sie! Herrgott!« Er wedelt mit dem Skalpell in Richtung Tür. »Ich komme hier eine Weile allein zurecht.« Macht sich schmunzelnd wieder an die Arbeit.
    »Danke.« Während er zur Tür geht und schon die Handschuhe abstreift, spürt Kai die Augen der Schwester, die ihn über den Mundschutz hinweg mustern.
    Zehn Minuten verstreichen, ehe er in den OP zurückkommt; der heikelste Teil des Eingriffs ist vorbei. Während dieser Zeit hat Kai allein im Umkleideraum gesessen und versucht, die notwendige Geistesgegenwart zu mobilisieren, um weitermachen zu können, wohl wissend, dass er nicht zu lange fernbleiben durfte. Er muss die Sache durchstehen. Gedanken an Foday. Über die modifizierte Technik, für die er und Seligmann Pionierarbeit leisteten. Schließlich stand er auf, wechselte seine Kluft, machte sich wieder steril und kehrte in den OP-Raum zurück. Die Schwester half ihm mit den Handschuhen. Er nimmt in ihren Augen die Andeutung einer Frage wahr, rätselt, wie viel sie wohl gemerkt hat.
    »Gerade rechtzeitig.« Seligmann schwingt einen Stahlhammer und Meißel. »Kommen Sie, markieren Sie den Knochen für mich, bitte.«
    In dem Moment hebt sich Fodays Arm selbsttätig vom Tisch.
    »Anästhesie, wir bewegen uns«, ruft Seligmann.
    Salamatu pumpt mehr Ketamin in Fodays Blutbahn. Langsam, wie von unsichtbaren Strömungen getragen, sinkt Fodays Arm wieder hinab. Kai ritzt eine Furche in den freiliegenden Knochen. Einen Augenblick später setzt Seligmann den Meißel an, holt aus und treibt mit einem Hammerschlag den Meißel durch den Knochen. Hinter ihm flackert der Leuchtkasten an der Wand leicht.
    Auf dem OP -Tisch schläft Foday wie in Abrahams Schoß, während sein Schienbein methodisch zertrümmert wird.
    Sieben Uhr, und er ist auf dem Weg nach Hause. Fast zwölf Stunden seit seiner Ankunft im Krankenhaus. Er hat kaum eine Pause gemacht oder was gegessen. Er und Seligmann hatten Fodays Wunde vernäht, der ältere Mann plaudernd und Witze erzählend, an dem Tag bester Laune. Kai war dankbar, dankbar dafür, dass Seligmann sich selbst ablenkte, sodass Kai sich auf jeden einzelnen Stich und Knoten konzentrieren konnte, als wäre es sein allererster.
    Anschließend hatte Seligmann Kais Angebot, den OP -Bericht zu schreiben, angenommen und war Arme schwingend und pfeifend aus dem OP -Saal marschiert. Äußerlich Gegensätze, unter der Haut identisch, blühen beide Männer nur im OP auf, ein Skalpell in der Hand, einen menschlichen Körper auf dem Tisch. Seligmann hatte seine Pensionierung keineswegs gelassen hingenommen, streitbar wie ein Stier. Binnen sechs Monaten war seine Ehe in die Brüche gegangen. Seine Frau hatte als

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