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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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den Jungen wieder, der bei Julius gewesen war, als ich ihn von meinem Fenster aus beobachtet hatte, beide so in ihr Gespräch vertieft, dass sie stehen geblieben waren, um weiterzureden, vom Regen völlig durchnässt. Kurz danach war Julius in mein Arbeitszimmer gehüpft gekommen und hatte mich gebeten, ihm Geld für eine Limonade zu leihen. Ich erinnerte mich daran, als wäre es gestern gewesen. Wie alle anderen auch, war der Junge in Weiß gekleidet, an den Füßen weiße Tennisschuhe. Er trug das Haar nach der damaligen Mode vorne nach oben, über der Stirn ein Kamm. Was war das an seinem Arm? Ich beugte mich vor und sah ihn mir genau an. Es war ein schwarzes Armband. Ich richtete den Blick auf den Studenten, der ihm am nächsten saß. Auch er trug ein schwarzes Armband. Das Mädchen, mit dem er gerade sprach, hatte ein schwarzes Tuch um sein Haar geschlungen. Da drüben, das stämmige Mädchen mit dem langen Rock. Eine schwarze Schärpe. Noch ein Armband. Und noch eins. Und noch eins.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich zum Dekan. Er stand mit verschränkten Armen da, die Augenbrauen zusammengezogen, die Gesichtszüge zu einem Ausdruck allgemeiner, unbestimmter Verärgerung geordnet. Ich erinnerte mich an unser Telefonat an jenem Samstagvormittag, dem Tag, an dem er mich gebeten hatte, Saffia von zu Hause abzuholen und zu Johnsons Büro zu begleiten. Am Telefon hatte er gereizt geklungen. Als ärgerte er sich darüber, zu einer solchen Uhrzeit geweckt worden zu sein. Und doch musste er da schon gewusst haben, was geschehen war. Er musste gewusst haben, dass Julius tot war.
    Unten im Hof bewegte ich mich durch das Gedränge von Studenten. Andere Fakultätsmitglieder sah ich nicht. Ein, zwei Studenten grüßten mich. Ein Nicken hier, ein Händedruck dort. Ein Junge umfasste meine Hand und wollte sie nicht wieder loslassen. Er ließ den Kopf hängen und fing an zu schluchzen.
    Um zwei Uhr läutete die Bibliotheksglocke, und es entstand eine allgemeine Bewegung, ein Füßescharren, als die Menschen sich zu einer gewissen Ordnung zu sortieren begannen. Ich ließ mich von ihnen mitziehen; mittlerweile wusste ich ganz genau, was ihr Ziel war. Trotz der Atmosphäre von Trauer, dem düsteren Tag und den dickbäuchigen Wolken, die über uns hinzogen, der Feuchtigkeit, die von allen Seiten herandrängte, war eine gewisse Leichtigkeit in der Luft, und ich fühlte mich dadurch unerklärlich emporgehoben. Es kümmerte mich nicht, dass der Dekan möglicherweise zusah, darauf wartete, dass ich ihm Bericht erstattete – damit würde ich mich später auseinandersetzen. Einstweilen schloss ich mich dem Studentenumzug an, der am Tor abbog und sich den baumgesäumten Boulevard entlang in Richtung Zentrum aufmachte. Es wurde gesungen, wie ich mich erinnere, aber nicht viel. Hauptsächlich marschierten wir schweigend. Vierzig Minuten. Eine Minute für jeden Tag, seitdem er dahingegangen war. Schließlich kamen wir an.
    Und wer keinen Platz im Haus fand, füllte den Garten, und wer im Garten keinen Platz fand, blieb auf der Straße stehen, bis das rosa Haus auf dem Hügel praktisch umzingelt war.
    Julius war an einem Asthmaanfall gestorben. Das ist, mit wenigen Worten das, was man uns sagte. Als man ihn fand, war es schon zu spät; es konnte nichts mehr zu seiner Rettung getan werden. Offenbar war ihm sein Medikament zusammen mit seinen übrigen Habseligkeiten abgenommen worden. Ein beklagenswertes Versehen. In dem Raum, in dem er festgehalten worden war, im Untergeschoss des Gebäudes, hatte ihn niemand sterben hören.

30
    In der Ecke sitzt eine Frau an einem Tisch und zählt Stapel von abgewetzten Geldscheinen ab. Ihr Haar ist in ein tiefrotes Tuch gewickelt, das um ihren Kopf geschlungen, verdreht und festgesteckt ist, wobei die gekräuselten Enden frei emporragen. Das ganze Arrangement erinnert an eine riesige Rose. Die Kellnerin hat eine Rose im Haar. Auf dem Tisch steht eine Vase mit einer Plastikrose. Am Tisch nebenan sitzen zwei Männer; der eine trägt eine Hundemarke, ein Armband und Tattoos. Sein Haar ist glatt geölt, sein Akzent klingt seltsam in Adrians Ohren. Eine Art stranguliertes Amerikanisch, als habe er Englisch sprechen gelernt, indem er sich Taxi Driver angeschaut hat. Adrian sagt das zu Mamakay, und sie findet seinen Gedanken amüsant, was ihn wiederum freut.
    »Als ich Kind war, fanden wir Liberianer unheimlich cool. Sie hatten Eissalons.«
    »Gab es hier keine Eiscreme?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Es gab

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