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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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missbilligend, deren Fähigkeit, mit Hochgeschwindigkeit Geld zu zählen und trotzdem dem Gespräch zu folgen, Adrian beeindruckt. Ihre Finger sind so schnell, dass das Auge nicht folgen kann.
    »Ist das nicht merkwürdig?«, fährt Mamakay fort. »Die Regierung hat jahrzehntelang ihr eigenes Volk bestohlen. Sie macht es nach wie vor. Haben die Leute da irgendwas gesagt? Haben sie protestiert? Nein. Ihre Kinder liefen in Lumpen herum und hungerten. Kein Mensch hat diesen Leuten die Meinung gesagt. Aber wenn ein armer Mann ein paar Tomaten stiehlt, wird er gelyncht.«
    »So ist das eben«, sagt Mary.
    »So ist es leider wirklich«, sagt Adrian. Aggressionsverschiebung, eines der grausamsten Paradoxa bei unterdrückten Völkern. Der Tomatendieb zahlte den Preis für die Schweizer Bankkonten des Ministers.
    »Was hat man Ihnen erzählt, was hier ablief? Bevor Sie hergekommen sind, meine ich?«, fragt Mamakay, jetzt zu ihm gewandt. »Ethnische Gewalt? Stammeskonflikte? Schwarze, die sich gegenseitig umbringen, sinnlose Gewalt! Die meisten Leute, die solche Sachen schreiben, trauen sich nicht mal aus ihrem Hotelzimmer raus. Und wären nicht imstande, einen Mende von einem Fula zu unterscheiden. Aber trotzdem schreiben sie immer wieder die gleiche Story. Ist einfacher so. Und wer könnte ihnen schon widersprechen?«
    »Was würden Sie denn sagen, was es war?«, fragt Adrian vorsichtig.
    »Es war Wut . Was hier passierte, war letzten Endes kein Krieg. Es war Raserei. Weil man nichts mehr zu verlieren hatte.« Sie lehnt sich zurück und schaut sich im Lokal um. »Könnten wir bitte Kaffee haben, Mary?«
    Adrian erinnert sich an sein erstes Gespräch mit Ileana. Das waren auch ihre Worte gewesen: nichts zu verlieren.
    Als es Zeit wird zu zahlen, holt Adrian seine Brieftasche heraus, doch Mamakay winkt ab. »Mary ist mir was schuldig.«
    Er schaut Mamakay an, die zurückgelehnt auf ihrem Stuhl sitzt und mit den Augen Mary folgt, während diese die Tische abgeht. Mamakays weit auseinanderstehende Augen, die weichen Linien ihrer Nase, ihr auf dem Scheitel geknotetes, zu Zöpfen geflochtenes Haar, ihr bis zum Halsausschnitt des cremefarbenen T-Shirts entblößter Nacken. Jetzt wird sie sich jeden Augenblick umdrehen, und ihre Blicke werden sich begegnen. Und sie wird ganz genau wissen, woran er denkt. Er darf es nicht zulassen. Er sucht nach etwas, womit er das Schweigen auffüllen kann, aber er findet keine Worte. Sein Gehirn ist zu vollgestopft mit Gefühl. In diesem Moment schaut sie sich um, sieht ihm direkt in die Augen. Ihre Lippen sind geöffnet, zum Sprechen bereit. Doch sie sagt nichts. Dann kommt der Moment der Erkenntnis, ein Begreifen hinter dem Licht, das sich in ihren Pupillen spiegelt. Adrian schlägt die Augen nieder.
    Sie trennen sich an der Straßenecke, und er schaut ihr nach. Sie läuft mit schnellem Schritt den holprigen Gehsteig entlang. Er wird sie vielleicht am nächsten Morgen sehen, beim Wassertransport. Diese kleine Hoffnung genügt, um ihm über den Nachmittag zu helfen.
    Adrian verbringt immer mehr Zeit in der psychiatrischen Anstalt, hilft Ileana, verloren gegangene Krankenblätter, jene Akten, die während der Invasion verbrannten oder auf andere Weise zerstört wurden, zu rekonstruieren. Unterstützt wird er dabei von Salia, der den Namen und die Krankengeschichte jedes einzelnen Patienten, der jemals in der Anstalt war, unauslöschlich im Gedächtnis bewahrt. Adrian befragt Patienten, einen nach dem anderen. Stundenlanges Sich-Anhören von Wahnvorstellungen, Ängsten, Störungen und Träumen, um eine Diagnose zu bestätigen, wenn möglich, und eine entsprechende Klassifizierung vorzunehmen. Attila scheint ihn in dieser neuen Rolle sympathischer zu finden, weniger gegen seine Anwesenheit einzuwenden zu haben. Sie haben sich sogar ein-, zweimal miteinander unterhalten. Adrian genießt es, dass sein Tag dadurch eine innere Struktur besitzt, genießt den Respekt, den er in den Augen des Pflegepersonals wahrnimmt, genießt es, wenn Salia seine Vorschläge akzeptiert. So ist Adrian fürs Erste mit dieser Beschäftigung zufrieden. Doch auf dem Hin- und Rückweg mustert er die Menschenmassen wie einen Stummfilm: Menschen, die die Straße überqueren, sich um Stände scharen, auf Beförderungsmittel warten, die Bettler und Irren, in ihnen allen sucht er nach Agnes. Er kann nicht anders. Er findet sie nie, entdeckt nirgends die gelb-schwarze lappa oder das T-Shirt mit dem Delfin, ihre schmächtige gebeugte

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