Lied aus der Vergangenheit
Gestalt.
Auf dem Heimweg nach seinem Mittagessen mit Mamakay fährt Adrian an Kai vorbei, der im Stadtzentrum am Kreisverkehr steht. Er hupt, winkt und fährt an den Straßenrand. Kai steigt ein.
»Danke.«
»Was für ein Glück, dass ich dich gesehen habe«, sagt Adrian. »Was machst du hier?«
»Och, dies und das.« Kai schaut weg, aus dem Fenster. Adrian hat gelernt, diese Momente zu erkennen, fragt sich, ob Kai überhaupt eine Ahnung hat, wie unangenehm seine Stimmungsschwankungen sein können. Dennoch, Adrians Stimmung ist gut, und nichts kann sie so leicht erschüttern. Er wirft seinem Freund einen Blick zu. Kais Gesicht ist angespannt, wie nach unten gezogen. Er hat den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, seine Stirn rumpelt gegen das Glas, und die Außenwelt gleitet über seine Augäpfel hinweg. Adrian hat ihn seit Tagen nicht gesehen.
»Sollen wir auf ein Bier halten?«
»Klar. Warum nicht?«
Durch Mamakay hat sich die Landschaft der Stadt für Adrian gewandelt. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft besitzt die Stadt eine Vergangenheit, existiert auch in einer anderen Dimension als der Gegenwart. Orte, an denen er vorbeifährt, das Mary Rose, die Wasserpumpe, sind bereits mit Erinnerungen verknüpft. Selbstsicherer in Bezug auf die Stadt und seinen eigenen Platz in ihr, biegt Adrian in die Ausfallstraße ein, Richtung Ocean Club. Und weil der Ocean Club ihn, wie so vieles andere, an Mamakay erinnert und er sich nichts mehr wünscht, als über sie zu reden, sagt er: »Ich habe heute ein neues Lokal ausprobiert – das Mary Rose. Das Essen ist gut.«
»Ach ja?« Kai sieht nach wie vor in die andere Richtung. »Der alte Laden.«
»Du kennst es also?«, sagt Adrian enttäuscht.
»Klar. Bin aber schon ewig nicht mehr da gewesen.«
Adrian richtet seine Aufmerksamkeit auf die Straße, versucht, sich seine Unbeschwertheit zu bewahren. An der Kreuzung neben der Tankstelle steht der Polizist, den er schon mal gesehen hat, und fuchtelt mit den Armen. Als sie näher kommen, hebt er die Hand. Adrian hält und blinkt rechts.
Kai richtet sich neben ihm auf. »Wo willst du hin?«
»Zum Ocean Club. In Ordnung?«
»Da musst du geradeaus fahren.«
Adrian schüttelt den Kopf, er weiß es jetzt besser. Die Stadt hat angefangen, sich vor ihm zu entwirren, sie eröffnet ihm ihre Geheimnisse und Eigenarten, ihre Struktur und ihre Umrisse. Zum Ocean Club führen zwei verschiedene Routen.
»Wenn wir über die Halbinselbrücke fahren und die Küstenstraße nehmen, gibt’s viel weniger Verkehr. Wenn wir hier weiterfahren, stecken wir bald im Stau.« Er reißt das Lenkrad leicht herum, wodurch das Auto in die Mitte der Fahrbahn gerät, gerade weit genug, um einem Laster Platz zu machen, der von hinten heranprescht.
»Verdammte Scheiße!«
»Ist schon okay.« Adrian lächelt in der Annahme, Kai zweifle an seinem fahrerischen Können.
»Ich hab Stopp gesagt! Ich will nicht da lang. Könntest du einfach tun, was ich sage, und geradeaus fahren?«
Diesmal hört Adrian die Bemühung um Selbstbeherrschung in Kais Stimme und wirft ihm einen kurzen Blick zu. Kai sitzt vornübergebeugt und knetet seine Stirn mit den Fingerspitzen. An seinem Hals tritt eine Ader hervor, zeichnet sich wie ein Knoten unter der Haut ab. Er erwidert Adrians Blick nicht, sondern starrt geradeaus durch die Frontscheibe. Er sieht zutiefst verängstigt aus.
»Natürlich.« Adrian wirft einen Blick in den Rückspiegel und fädelt sich schnell wieder ein. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass Kai sich zurücklehnt, die Hände flach auf seine Oberschenkel legt, Kopf an die Kopfstütze, Augen halb geschlossen.
Kaum im Klub angekommen, verschwindet Kai auf der Toilette. Adrian sucht einen Tisch aus und bestellt zwei Star. Er denkt über das nach, was gerade im Auto geschehen ist. Kai war bei der Vorstellung, die Brückenstraße zu nehmen, regelrecht in Panik geraten – oder hatte zumindest den deutlichen Eindruck erweckt. Adrian versucht, sich zu erinnern, ob sie jemals diese Route gefahren sind. Ihm fällt auf, dass das nicht der Fall ist. Wenn jemand fährt, ist es in der Regel Kai, und sonst nehmen sie ein Taxi, und Kai ist derjenige, der mit dem Fahrer verhandelt. Nach einigen Minuten taucht Kai wieder auf, zieht einen Stuhl vom Tisch, dreht ihn herum und setzt sich rittlings darauf. Er stützt die Ellbogen auf den Tisch und trinkt sein Bier. Adrian beobachtet ihn kurz.
»Wie geht’s Abass?«
»Ja, ihm geht’s gut. Dem kleinen Mann geht’s
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