Lied aus der Vergangenheit
meinem Körper.« Er sitzt mit hängenden Schultern da, die Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt. In seiner Stimme ist ein leichtes Zittern, ein Zögern, aber ansonsten wirkt er vollkommen normal, wenn auch ein wenig nervös.
»Und Ihr Kopf?«
»Ja, im Kopf geht es mir gut. Nur dass ich manchmal Angst hab.«
»Wovor haben Sie denn Angst, können Sie es mir sagen?«
»Sachen, die ich träume.« Er schüttelt heftig den Kopf.
»Das müsste mit der Zeit besser werden. Wo gehen Sie jetzt hin? Haben Sie Angehörige?«
Abdulai nickt. Seine Angehörigen waren ja diejenigen, die ihn bei der Polizei abgeliefert hatten. Wie sich Adrian erinnert, hatten die Beamten angedeutet, Abdulai sei gewalttätig geworden.
»Wie kommen Sie nach Hause?«
»Mr Salia hat mir Geld für den poda poda gegeben.«
»Ihre Angehörigen können Sie nicht abholen kommen?«
»Meine Mutter ist gestorben. Mein Vater ist auf der Arbeit.«
An der Tür gibt Adrian dem jungen Mann noch etwas Geld aus seiner eigenen Tasche und sieht ihm dann nach, wie er sich in Richtung Tor entfernt. Er hat nicht ein einziges Gepäckstück bei sich, nichts als die Kleider, die er am Leib trägt. Er hat mehrere Wochen in Ketten verbracht, drei Mahlzeiten am Tag erhalten. Seine ganze Therapie bestand in ein paar Sitzungen mit Attila. Jetzt wird er entlassen.
Später fragt Adrian, während er Ileana bei der Verrichtung ihrer Teezeremonie zuschaut: »Was wird aus ihm werden?«
Ileana zuckt die Achseln und inhaliert. »Wenn er es schafft, die Finger von den Drogen zu lassen, könnte er durchaus die Kurve kriegen.«
»Dann gibt es also keine Nachbetreuung?«
»Selbst wenn man die Leute dazu bekäme, zu den Sitzungen zu kommen, wer sollte sie leiten?«
»Ich könnte das machen.«
»Sie sind in ein paar Monaten nicht mehr hier.« Während Ileana spricht, wippt die Zigarette in ihrem Mundwinkel auf und ab. Adrian beobachtet, wie die Asche immer länger wird und sich dabei mehr und mehr nach unten biegt. Gerade, als er ihr einen Aschenbecher zuschieben will, nimmt Ileana die Zigarette aus dem Mund und schnippt die Asche geschickt aus dem Fenster. »Kommen Sie. Trinken wir den Tee im Garten.«
Als sie nebeneinander auf der Bank sitzen, sagt Ileana: »Es gibt Stellen, an die er sich wenden kann. Die Pfingstkirchen erleben derzeit einen richtigen Boom. Da gibt’s keine Überraschungen zu befürchten. Das Gleiche gilt für die traditionellen Heiler. Die Leute glauben an sie, das ist, was zählt. Obwohl diese Heiler auch sonst sehr interessant sind. Attila hat großen Respekt vor ihnen. Die Wirkstoffe mancher Antipsychotika, die wir verwenden, kannten sie schon vor Hunderten von Jahren. Aber«, fährt Ileana in einem Ton fort, der verrät, dass sie sich damit abgefunden hat, »ihr Engländer nennt sie ja ›Hexendoktoren‹.«
Dass er sich noch am selben Tag mit Mamakay treffen würde, hatte Adrian Ileana gegenüber nicht erwähnt. Jetzt liest sie, während sie auf ihn wartet, den Kopf über das aufgeschlagene Buch gebeugt, eine leere Flasche Bitter Lemon vor sich auf dem Tisch, an dem außer ihr noch zwei Studenten im klaren Sonnenlicht sitzen. Für einen Moment kommt es Adrian so vor, als könnte sie an einem beliebigen anderen Ort auf der Welt sein. Er verlangsamt seinen Schritt, um Zeit zu haben, sie in Ruhe zu betrachten. Ganz versunken in ihr Buch, bemerkt sie seine Anwesenheit gar nicht. Heute trägt sie eine taillierte Kattunbluse, die ihre Schlüsselbeine zeigt, und einen dazu passenden knöchellangen Rock. An den Füßen verzierte Ledersandalen. Ihr Haar ist hoch aufgebunden und mit einem Kopftuch umwickelt. Sie nagt an der Seite eines Daumens, während sie mit dem anderen ihren Fortschritt auf der Seite nachvollzieht. Sie lächelt leicht, und er weiß, auch wenn er es jetzt nicht sehen kann, dass ihre Schneidezähne leicht voreinander stehen. Ihre Augenbrauen sind lange Schwingen. Ein Muttermal, eine Verdichtung von Dunkelheit vor dem Hintergrund dunkler Haut, sitzt hoch auf ihrem Jochbein, ein zweites unter ihrem Mundwinkel. Sie ist nicht im landläufigen Sinne hübsch, eher das, was Lisa »apart« genannt hätte, um mit einem Beiklang von Lob eine Schönheit zu verdammen, die ihrer Ansicht nach zu viel Kraft besitzt.
Plötzlich prustet sie, lacht laut und schaut auf.
»Amüsantes Buch?«
Sie hält es hoch, damit er den Deckel sieht. Drei Männer in einem Boot . Jerome K. Jerome. So ziemlich das Letzte, womit er gerechnet hatte.
»Haben Sie es
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