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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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und so musste er ihnen wohl oder übel glauben.«
    »Das muss für ihn ziemlich verwirrend gewesen sein.«
    »Ja. Ich bezweifle, dass er herausgefunden hat, was Wirklichkeit war und was nicht. Der arme Mann. Das muss man sich mal vorstellen, dass einem Leute einfach ins Unterbewusstsein reinspazieren und wieder raus.«
    »Beunruhigt es Sie?«
    »Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Er war früher klar im Kopf. Das wird er irgendwann auch wieder werden. Viele glauben hier an Träume. Sie doch auch, oder? Als Psychologe?«
    »Manche Teilbereiche befassen sich mit ihrer Deutung, ja«, sagt Adrian. Er hatte es bis zu diesem Moment nicht so gesehen, aber er kann nicht behaupten, dass sie unrecht hat. Wenn er mit seinen Patienten in der Anstalt spricht, und das tut er jeden Tag, fragt er sie oft nach ihren Träumen. Was ist da schon groß der Unterschied? Sie hat absolut recht.
    Die Weinflasche ist leer, und wenn sie ihre Gläser nicht mehr nachfüllen können, fürchtet Adrian, dass der Abend zu Ende ist. Er sagt sich, dass er ohnehin bald gehen sollte, was er sich im Lauf der letzten paar Stunden schon mehrmals gesagt hat, jedes Mal ohne die geringste Lust zu verspüren, auf sich zu hören. Kaffee. Mehr Wein. Die mühsam zusammengekratzten Ausreden gehen ihm allmählich aus. Der Strom ist schon am frühen Abend ausgefallen. Die zwei verbleibenden Kerzen sind weit heruntergebrannt, jagen lange Schatten die Wände hinauf. Jetzt schaut er Mamakay dabei zu, wie sie die Wohnung nach einer weiteren Kerze absucht.
    »Ich könnte schwören, dass ich mehr gekauft habe. Manchmal kommen die anderen einfach hier rein und bedienen sich.«
    Wenn der Kerzenvorrat aufgebraucht ist, denkt Adrian, wird er wohl oder übel gehen müssen.
    »Ah, gut. Ich hatte sie versteckt. Wusste ich’s doch.«
    Adrian atmet auf.
    Auf einem Beistelltisch steht ein Foto. Er beugt sich vor, um es zu betrachten: Mamakay und zwei weitere Mädchen. In einem von ihnen erkennt er Mary wieder, eine schlankere, jugendlichere Mary.
    »Unsere Invasionsuniform«, sagt Mamakay. »Das Foto wurde genau mittendrin aufgenommen.«
    »Was sollen die Jeans?«, fragt er.
    »Wir trugen Jeans unter dem Kleid. Eine Zeit lang zogen wir uns jeden Tag so an, weil keiner wusste, wann sie kommen würden. An einem Tag hieß es im Radio, die Rebellen seien bis zur Grenze zurückgeschlagen worden, am nächsten kamen Leute in der Stadt an und sagten, sie seien schon in Port Loko. Wir hörten auf, der Regierung zu glauben. Wir zogen Bluejeans an.« Sie verstummt, und dann stößt sie ein kurzes seltsames Lachen aus, wie über eine absurde oder möglicherweise schmerzliche Erinnerung.
    Er versteht noch immer nicht.
    Mamakay sieht ihn an. »Haben Sie je versucht, eine enge Jeans auszuziehen, wenn Sie es eilig hatten? Das war das Einzige, was uns einfiel. Um sie daran zu hindern, uns zu vergewaltigen. Na ja, um es ihnen zu erschweren.«
    Adrian möchte alles von ihr erfahren, alles, was damals passierte. Er kann sich nicht vorstellen, wie es gewesen ist. Die Ohnmacht. In der Hinsicht war der Krieg für die Zivilbevölkerung schlimmer, denn die Kämpfenden hatten wenigstens die Möglichkeit, sich zu wehren. Zivilisten waren angepflocktes Freiwild.
    Mamakay nimmt das Foto in die Hand, schaut es kurz an und stellt es dann wieder hin. »Sarian ist jetzt nicht mehr da.«
    Sie lässt es so klingen, als sei sie tot.
    »Wo ist sie?«
    »In Holland. Die haben da vierundzwanzig Stunden am Tag Strom, können Sie sich das vorstellen?«
    Er kann es durchaus, aber er sagt es nicht. Stattdessen fragt er: »Würden Sie nicht gern woanders leben?« In England, vielleicht.
    »Nein.« Sie schüttelt den Kopf.
    »Sie hätten sehr viel mehr Möglichkeiten, Ihre Musik …«
    »Ich bin hier glücklich. Ob Sie’s glauben oder nicht.«
    Eine Stunde später und ein Zentimeter Kerze übrig. Adrian steht auf, um zu gehen. Mamakay begleitet ihn zu seinem Wagen. Es ist stockdunkel. Es kommt ihm so vor, als würden seine Schuhe einen bemerkenswerten Lärm auf dem Zement verursachen. Sie ist barfuß und lautlos. Die im Hof eingerollt daliegenden Hunde heben die Köpfe und verfolgen mit opaleszierenden Augen seine Schritte. Für einen Moment leuchtet der Mond zwischen den Wolken, und er kann ein Stück weiter die Silhouette des Fahrzeugs ausmachen. Wo Mamakay sich momentan befindet, wüsste er nicht zu sagen. Er hält geradewegs auf den Wagen zu, sicherer ausschreitend, als er ist, versucht, sich an die genaue Lage von

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