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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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dass er dann nicht mehr aufhören könnte.
    Eines Abends setzen sie sich auf den Balkon im Obergeschoss. Der Mieter dieser Wohnung ist ein paar Tage lang nicht da. Sie steigen mit ihrem Bier die Außentreppe hinauf. »Dass man zur Abwechslung mal was anderes sieht«, sagt sie. »Ich hab’s satt, immer nur auf Beton zu starren.« Von da oben schaut man auf das Dach des nächsten Hauses, auf Ansammlungen von Blechhütten – panbodies sagt man hier dazu, wie Adrian inzwischen weiß.
    Eine Gruppe von zerlumpten kleinen Jungen marschiert über eine offene Fläche, einen aus ihrer Mitte wie einen Gefangenen vor sich hertreibend. Einer von ihnen verpasst ihm einen Stoß in den Rücken, und der Junge taumelt.
    »Hey!« Mamakay ist aufgesprungen und schreit die Kinder an, die stehen bleiben und zu ihr aufschauen. Eins nach dem anderen schlagen sie die Augen nieder und schlurfen davon.
    »In Großbritannien würde das nicht funktionieren.«
    Sie setzt sich ihm gegenüber hin. »Ach nein?« Sie sieht belustigt aus.
    »Nein«, sagt Adrian. Und dann: »Hast du Geschwister?«
    »Nein«, sagt Mamakay.
    »Das ist ungewöhnlich, nicht?«
    Sie nickt. »Ich weiß auch nicht, warum. Ich wünschte mir immer ein Brüderchen, du weißt schon, wie das jedes kleine Mädchen tut. Immer wieder hab ich meine Mutter um eins gebeten. Sie sagte nie Nein, und sie sagte nie Ja. Irgendwann habe ich damit aufgehört. Ich habe es mir wahrscheinlich anders überlegt. Also nein. Weder Brüder noch Schwestern.«
    Adrian hat Mamakay noch nichts über seine Beziehung zu ihrem Vater gesagt. Es liegt ja kein echter Interessenkonflikt vor, beschwichtigt er sich selbst. Sein Patient ist Elias Cole, nicht Mamakay. Und Elias Cole ist auch gar kein Patient, nicht im eigentlichen Sinne. Trotzdem erfordert die Sache Fingerspitzengefühl. In Großbritannien würde seine Beziehung zu ihr zweifellos als – vom professionellen Standpunkt aus betrachtet – problematisch angesehen werden. Aber sie sind hier nicht in Großbritannien.
    Etwas kommt aus der Dunkelheit geflogen und fällt in einen Pawpaw-Baum ein, seine Flügel knallen wie ein Großsegel, das sich plötzlich mit Wind füllt. Der Baum reicht bis an die Höhe des Balkons, die Blätter sind fast zum Greifen nah. Mamakay leuchtet mit einer Taschenlampe in die Baumkrone, und sie sehen einen Flughund. Adrian hört die schmatzenden Geräusche, mit dem das Tier, offenbar ohne sich durch ihre Nähe stören zu lassen, die Früchte frisst. Ein zweites Fledertier kommt angeflogen und lässt sich unweit des anderen nieder. Adrian ist auf ihre Schwärze nicht gefasst, eine schier unwirkliche Schwärze: Flugmembranen, Schnauzen, Krallen, als habe sich alle Dunkelheit der Welt in diesem einen Lebewesen verdichtet. Er würde die Tiere gern zeichnen, aber wie Mamakay sagt, kommen sie immer nur nach Einbruch der Dunkelheit. Sie holt eine Öllampe und stellt sie auf den Tisch zwischen ihnen beiden. Sie setzt sich und stützt die Fersen auf die Stuhlkante, die Arme auf den Knien verschränkt, in einer Hand ihre Flasche Bier. Das Licht beleuchtet die Ebenen ihres Gesichts, die Ränder ihrer Lippen, den Glanz ihrer Augen. Er erfährt, dass sie Geschichte studiert hat, wie ihr Vater.
    »Hast du je daran gedacht, dich um eine Stelle an der Uni zu bewerben?«
    Sie erwidert: »Ich hab mein Studium gar nicht abgeschlossen.«
    »Wegen des Krieges?«
    »In gewisser Weise.« Sie steht auf und wechselt das Thema. »Hast du Hunger? Ich hab Hunger. Ich muss was essen. Lass uns ausgehen.« Auf einmal ist sie nicht mehr entspannt, sondern ruhelos.
    »Klar«, sagt Adrian, der ihr bislang noch nichts abgeschlagen hat.
    Wenn er von ihr getrennt ist, versucht er, ihr Gesicht heraufzubeschwören. Er schließt die Augen, aber der Zauber will nicht gelingen. Wenn sie zusammen sind, beobachtet er sie, prägt sich ihre Züge, ihre Gesten ein. Trotzdem schafft er es anschließend nicht. Es ist so, als nehme sie, wenn sie geht, alles von sich mit.
    Außerdem wird ihm bewusst, dass sie ihm so gut wie keine persönlichen Fragen stellt, nicht einmal, wann sie sich das nächste Mal sehen werden. In den Augenblicken, in denen sie zusammen sind, schenkt sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit; andererseits scheint er sie nicht im Mindesten neugierig zu machen. Das stört ihn. Er betrachtet sie, wie sie mit dem Rücken zu ihm daliegt, als sich eine Erinnerung an die Nacht in der Bar einstellt: das Mädchen mit dem violetten Top, verzerrt und verbogen, zu etwas

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