Lied aus der Vergangenheit
Tauchermaske und Schnorchel. Es muss ein qualvoller Tod gewesen sein.
Durch die Straßen der Stadt, ein gemächlicher spätnachmittäglicher Spaziergang. Von Zeit zu Zeit winkt Ishmail Leuten zu, die auf den Treppen vor den Häusern sitzen, gibt einem Mann die Hand, stellt Kai als seinen Bruder vor. Einmal kommen sie an einem Haus vorbei, auf dessen Balkon sich fünf, sechs junge Männer fläzen. Anders als vor den anderen Häusern sind hier keine Frauen, keine Kinder zu sehen. Ishmail nickt. Ein, zwei nicken zurück. Niemand lächelt, und Ishmail stellt Kai, anders als er das bisher getan hat, nicht vor. Auf einer beidseits bebauten Straße dreht sich Abass, der vorneweg geht, um und erklärt mit dem unbestechlichen Gedächtnis von Kindern: »Hier haben wir Onkel Adrian gefunden, nachdem das Fahrrad ihn angefahren hatte.«
Ishmail lacht. »Wer ist das, der von einem Fahrrad angefahren wurde?«
»Onkel Adrian. Wir haben ihn hier gefunden und ihn nach Hause gefahren.«
Ishmail wirft Kai einen fragenden Blick zu.
Kai lässt Abass wieder vorauslaufen, bevor er Ishmail aufklärt. Dann gehen sie schweigend weiter, bis sie ein Motel erreichen, teilweise umgebaut und neu gestrichen, mit borstigen Bambusstangen eingerüstet. Im Hof sind eine Ziege und ihr Kitz angepflockt. Die Ziege meckert: ein melancholischer gebetsmühlenartiger Laut. Abass bekommt eine Fanta und setzt sich damit draußen hin und schaut der Ziege zu. Zwei Männer in der charakteristischen Kluft von städtischen Arbeitern verfolgen an der Bar das Fußballspiel. Ishmail führt Kai zu einem Tisch im hinteren Teil des Raums.
»Ich hab von diesem Mann gehört«, sagt er direkt, »dem, von dem du sagst, er wäre von einem Rad angefahren worden. Ich hab gehört, dass ein Ausländer verletzt worden ist.«
»Wer hat dir das erzählt?«
Ishmail zuckt die Achseln. »Die Leute reden.« Er sitzt über den Tisch gebeugt, Kai gegenüber, einen Arm um sein Bier. Er spricht mit leiser Stimme. »Irgendeine üble Geschichte.«
»Er wurde überfallen«, sagt Kai. Er erzählt Ishmail alles, was er weiß: von Agnes, von Adrians unvorsichtigem Besuch in ihrem Haus. Vom Schwiegersohn.
Ishmail nickt, als ergebe das alles für ihn einen Sinn.
»Weißt du, worum es dabei ging?«
Ishmail schüttelt den Kopf. »Es gibt hier ein paar üble Typen. Du warst während der Kämpfe nicht hier, du hast es nicht mitbekommen. Ich war die meiste Zeit über auch nicht hier, aber davor schon. Hinterher bin ich zurückgekommen und hab gesehen, was sich alles geändert hat. Jetzt sagen sie, es wäre vorbei, aber es ist nicht vorbei. Hast du diese Männer gesehen, an denen wir vorbeigekommen sind?«
»Wer?« Kai schaut nach den Männern am Tresen.
»Nein, nicht die da. Die, die auf dem Balkon von dem Haus saßen. Die sind zu der Zeit aufgetaucht, und sie sind immer noch hier. Die Leute möchten, dass sie gehen, aber sie gehen nicht. Die Regierung hat die Kämpfer aufgefordert, wieder heimzukehren, aber viele sind geblieben.«
»Warum?«
»Vielleicht weil sie ein besseres Leben gefunden haben. Vielleicht weil sie nichts haben, wo sie sonst hinkönnten.« Ishmail schüttelt den Kopf, stellt seine Flasche auf den feuchten Bierdeckel, dreht sie sorgfältig so herum, dass das Etikett zu ihm zeigt, und studiert es. »Also bleiben sie. Warum auch nicht?«
»War es einer von denen, der meinen Freund überfallen hat?«
Diesmal schüttelt Ishmail nachdrücklich den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.« Er trinkt einen Schluck aus seiner Flasche. Im Fernsehen verpatzt ein Spieler einen Elfmeter. Einer der Männer knallt seine Flasche auf den Tresen und flucht. Ishmail pult am Etikett seiner Flasche und sagt nichts mehr. Kai beschließt, ihm von seinem Plan, nach Amerika zu gehen, zu erzählen. Sein Vetter grinst und beglückwünscht ihn, hebt seine Flasche Bier. Sie trinken beide.
»Wenn du dort bist, schick mir eine Kleinigkeit.«
Sie trinken aus, und Ishmail steht auf. »Gehen wir«, sagt er. Draußen sammeln sie Abass ein, der Gras und Blätter gepflückt und der Ziege hingestreut hat; seine Gabe liegt allerdings unberührt da.
»Vielleicht hat sie Durst«, schlägt Kai vor. Als Abass losgeht, um in der Küche um eine Schüssel Wasser zu bitten, sagt Ishmail: »Ist das ein guter Freund von dir, dieser Mann, der verprügelt wurde?«
»Ja«, antwortet Kai. »Ein guter Freund. Er ist hier zwar nur zu Besuch, aber wir haben uns durch die Arbeit im Krankenhaus angefreundet. Ich übernachte
Weitere Kostenlose Bücher