Lied aus der Vergangenheit
schoss. Sie hörte die Beifallrufe und das Klatschen von JaJas Männern. Jemand in ihrer Nähe sagte: »O Kuru.« Mein Gott. Der Körper lag im Staub; die Beine strampelten, und dann nicht mehr.
Der zweite Käfig wurde geöffnet, ein weiterer Mann nach vorn geführt. Er hielt seine gefesselten Hände in die Höhe, und Binta erkannte, dass er um sein Leben flehte. Sekunden später sackte auch er in sich zusammen. Angst erfasste die Menge, die Menschen begannen, in Panik zu geraten. Der Kommandant sprach ins Megafon und befahl ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Männer wurden nach vorn getrieben, die die Leichen fortschaffen sollten. Binta erkannte sie als die Arbeiter von der staatlichen Gärtnerei, unter ihnen Agnes’ Mann. Sie hörte Agnes nach Luft schnappen. Der Knall der Pistole. JaJas Stimme. Agnes’ Keuchen. Von diesen Geräuschen abgesehen, so kam es Binta vor, spielte sich alles, was sie sah, in völliger Stille ab. Dunkler Rauch trieb über den Dächern der Häuser dahin, und der staubige Geruch von brennenden Ziegeln erreichte den Platz als Zeugnis der Gewaltigkeit dessen, was sich an dem Tag ereignete.
In der Mitte des Platzes wankte Agnes’ Mann, der älteste der Zwangsrekrutierten, unter dem Gewicht einer Leiche. Er war erst seit Kurzem aus dem Krankenhaus heraus, wo er wegen eines Leistenbruchs operiert worden war. Agnes hatte Binta davon erzählt. Er stolperte, bekam von einem der dünnen Männer einen Stoß und fiel zu Boden. Die anderen Gärtnereiarbeiter blieben stehen. Binta sah, dass sie sich mit offenen Händen zu JaJa wandten, wie Leute es tun, die es nicht wagen, zu protestieren. Selbst auf die Entfernung konnte sie JaJas Zorn spüren, denn sie hatte im Lauf ihres Lebens schon andere Männer wie ihn kennengelernt. Männer, die danach gierten, anderen Angst einzuflößen, und dennoch in Wut gerieten, wenn sie das Ergebnis sahen, weil es sie an sie selbst erinnerte. Die Gärtnereiarbeiter schienen das aber nicht zu erkennen und traten immer näher, die Handflächen nach oben gewandt. Agnes’ Mann kam, eine Hand am Unterleib, mühsam auf die Knie und streckte die freie Hand nach JaJa aus. Nein, dachte Binta. Fass ihn nicht an. Die Finger des alten Mannes griffen nach der Kleidung des Obersten. Der junge Kommandant trat einen Schritt zurück, machte dann kehrt und entfernte sich. Mehrere Sekunden lang stand er regungslos da, den Rücken zu ihnen gewandt. Binta hörte auf zu atmen. Plötzlich wirbelte JaJa herum und kehrte mit raschem entschlossenem Schritt zum alten Mann zurück, hob seine Waffe und schoss ihm in die Brust. Es ertönten Schreie. Dann weitere Schüsse, diesmal in die Luft abgefeuert. Irgendjemand hielt Agnes fest, aber es gab niemanden, der ihre jüngere Tochter, Yalie, hätte zurückhalten können, und sie rannte dorthin, wo ihr Vater lag. Die dünnen Männer scharten sich um sie und lachten, bis einer von ihnen sie wegzog. JaJa riss einem seiner Männer eine Kreuzhacke aus der Hand. Wieder erkannte Binta die Entschlossenheit seiner Bewegungen. Die dünnen Männer traten zurück, während er mit der Klinge auf den Nacken des Gärtnereiarbeiters einhackte, den Kopf aufhob und ihn Yalie zuwarf, die instinktiv die Hände danach ausstreckte. Wieder johlten die dünnen Männer Beifall.
Agnes’ Mann war das erste von vielen Todesopfern. Anschließend wurden die dünnen Männer auf die Stadt losgelassen. Sie waren das Vorauskommando. Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, weiß sie den Namen der Einheit. G 5 . Sie hat ihn im Radio gehört. Ihre Aufgabe war, laut dem Sprecher der Rebellen, »die Koordinierung der Beziehungen zwischen der Zivilbevölkerung und der Rebellenbewegung« gewesen. Manche nannten sie »die Sensibilisierungseinheit«.
Hier verstummt Binta. Ihre Hände sind die ganze Zeit in ihrem Schoß geblieben, still und reglos, die Handteller flach auf ihren Oberschenkeln, lange schlanke Finger.
Die Gärtnerei lag an ihrem Weg in die Stadt, erklärt jemand Kai. Sie nahmen die Männer mit, als sie über die Brücke in die Stadt einmarschierten.
Ja, nickt Kai.
Elf Uhr. Auf dem Stuhl sitzt eine Frau von gut fünfzig, kurz geschorenes graues Haar und eine im weichen Fleisch ihrer Wange eingebettete dünne Narbe. Isatta war mit Agnes zusammen in einem Flüchtlingslager in Guinea, und zusammen mit ihr unternahm sie zwei Jahre später den langen Fußmarsch zurück in ihre Stadt.
Im Lager schienen sie größeren Gefahren ausgesetzt zu sein als während ihrer Flucht
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