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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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oft bei ihm. Er möchte helfen.«
    Ishmail nickt. »Wir alle sollten Freunde haben. Schau dir Abass an. Er kann sogar über die Arten hinweg Freundschaften schließen.«
    Die Ziege hat sich hingekniet und trinkt aus der Schüssel. Abass steht mit hängenden Armen glücklich daneben. Sie gehen durch die dunkler werdenden Straßen, denselben Weg, den sie gekommen sind, bis Ishmail an einer Stelle von ihrer Route abbiegt und sagt: »Nehmen wir diese Straße. Vielleicht kenne ich jemand, mit dem du reden kannst.« Kai folgt ihm wortlos. Bald erreichen sie ein Haus. Ein Vorhang hängt an der offenen Tür, dahinter Lichtschimmer. Ishmail klopft an den Türrahmen, schiebt den Vorhang behutsam beiseite. Kai wartet. Er hört Ishmail mit jemandem reden. Er wird hineingewinkt. Eine Frau sitzt auf einem Hocker und schält Erdnüsse. Sie wischt sich die Hände an ihrem Kleid ab.
    »Ich hab ihr gesagt, was du wissen willst«, sagt Ishmail. »Sie ist die Tante meiner Frau. Sie ist bereit, dir zu helfen.«
    Die Frau hält ihm die Außenseite des Handgelenks hin. Kai berührt sie mit der Außenseite von seinem.
    »Agnes war nicht immer so«, sagt sie. »Vorher war sie wie Sie und ich. Und dann ging sie über die Grenze.« Sie zieht den Hocker unter sich weg, wischt die Sitzfläche ab und stellt ihn wieder hin. »Bitte.«
    Kai setzt sich.
    Sie bietet ihm von den Erdnüssen an und verlässt zusammen mit Ishmail den Raum. Kai richtet sich aufs Warten ein.
    Wie viele Stunden er dort saß, wusste er später nicht mehr. Irgendwann schlich sich der Junge, schläfrig und des Wartens müde, zu ihm herein, und Kai erlaubte ihm zu bleiben, geborgen unter dem Fittich seines Arms. Leute wurden hinzugerufen. Eine Nachbarin. Eine junge Frau ohne Lächeln. Eine ältere Frau mit runzligem Gesicht und weißen Haaren. Kai wartete und hörte zu, ohne zu unterbrechen oder überhaupt ein Wort zu sagen, außer um jeden neuen Gast zu grüßen, der sich setzte und erfuhr, was von ihm erwartet wurde. Er blieb selbst dann stumm, wenn jemandem die Stimme versagte; er überließ es anderen, Trost zuzusprechen. Jeder erzählte einen Teil derselben Geschichte. Und indem sie die Geschichte einer anderen erzählten, erzählten sie ihre eigene. Kai nahm das, was sie ihm gaben, und fügte es mit dem zusammen, was er bereits wusste und was Adrian ihm erzählt hatte.
    Das war Agnes’ Geschichte, die Geschichte von Agnes und Naasu. Mit leiser Stimme, hinter einem Vorhang in einem stillen Zimmer und im Angesicht der Nacht, von vielen Lippenpaaren erzählt. Als der letzte Erzähler verstummte, war der Mond bereits weit über seinen höchsten Punkt hinaus, und Kai begriff, welchen Mut die Erzähler aufgebracht hatten.
    Mohammed erinnerte sich an Naasu. Dass sie jeden Montag denselben Weg zur Bushaltestelle ging, in hochhackigen Schuhen und einem Kostüm aus glänzendem Stoff. Jeden Freitag brachte sie der Bus zurück, und da trug sie immer ein schlichtes Baumwollkleid. Montags beobachteten Mohammed und die anderen jungen Motorrikschafahrer von ihrem Standplatz am Kreisverkehr aus immer, wie sie auf dem Weg zur Bushaltestelle vorüberging. Manchmal bot Mohammed sich an, sie zu fahren, und manchmal nahm sie das Angebot an. Sie saß dann mit den Beinen auf einer Seite und ließ sich zur Bushaltestelle chauffieren. Viele junge Männer bildeten sich ein, sie würden einmal für Naasu Kolanüsse bringen, da sie eines der hübschesten Mädchen der Stadt war und aus einer guten Familie stammte. Das sah man gleich an der Art, wie sie sich betrug. Sie hatte die Stelle im Kaufhaus in der großen Stadt. Einige der jungen Männer neckten sie. Wann nimmst du mich endlich mit in die große Stadt, Naasu? Und sie lächelte und neckte sie ihrerseits. Sie war keck, aber auf eine Weise, bei der man wusste, dass nichts dahintersteckte. Denn sie kannten sie alle seit Ewigkeiten, waren ihre Klassenkameraden gewesen. Jeder kannte Naasu. Manchmal brachte sie ihrem Vater, der eine Schwäche für Süßes hatte, Donuts in die Gärtnerei. Sie setzten sich dann auf einen ausrangierten alten Traktor. Wenn Naasu zusammen mit ihrem Vater vor der Gärtnerei saß, dann wusste man, dass es Freitag war. In den Monaten der Ausgangssperre kam sie immer etwas früher an, da die Busse nicht mehr gern nachts über Land fuhren. Am letzten Freitag, als Naasu heimkam, saßen sie und ihr Vater auf dem rostigen Fahrgestell des alten John-Deere-Traktors und aßen gezuckerte Donuts.
    Naasu war in der großen Stadt, als

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