Lied aus der Vergangenheit
dorthin. Im Urwald drohte die Gefahr von Schlangen, Büffeln und Rebellenkriegern. In den Lagern waren es Hunger, Typhus und Kälte. Aber die größte Bedrohung stellten ihresgleichen dar, Banden von Männern, die sich unter den Flüchtlingen die Schwachen heraussuchten: die ohne Familie, Frauen ohne männliche Begleitung. Am Tag ihrer Ankunft sahen Isatta und Agnes am Rand des Lagers etliche junge Mädchen in einer Reihe liegen, zwischen deren offenen Schenkeln Blut rann. Und immer und immer wieder fand man morgens die Körper junger Frauen, die, ihre lappas bis zum Bauchnabel hochgeschoben, wie Müllsäcke hinter den Zelten lagen. Im Lauf des Tages kamen dann die Familien, um die Leichen ihrer Töchter mitzunehmen. Die Mädchen, die keine Angehörigen hatten, blieben da liegen, wo sie waren. Agnes und ihre zwei Töchter waren allein, ohne einen Mann. Also lud Isatta Agnes, Yalie und Marian ein, mit ihr und ihrem Sohn ein Zelt zu teilen. Gerade mal fünfzehn, hatte Hassan vorzeitig ein Mann werden müssen.
Sie überlebten, indem sie sich strikt an die Regel hielten: Was immer sie machten – zur Essensausgabe anstehen, ihre Sachen im Fluss waschen, Wasser holen, nach Brennholz und essbaren Pflanzen suchen –, machten sie zu zweit. Die Außenseiten des Zeltes abzuschrubben wurde zu einer täglichen Routine. Abends legten sie sich zusammen schlafen, und Isattas Sohn lag quer vor dem Eingang. Draußen pirschten magere Schatten zwischen den Zelten. Sie beteten dafür, dass niemand merken würde, dass sie vier Frauen waren, lediglich von einem Jungen beschützt. Die Flüchtlinge lebten in ständiger Furcht vor Überfällen durch Rebellenbanden, doch es kam nie dazu. Dafür gab es schon im ersten Jahr zwei Choleraepidemien. Die dritte raffte Yalie hinweg. Marian starb sechs Monate später, nachdem eine Verletzung an ihrem Fuß brandig geworden war.
Am Tag nach Marians Tod verschwand Agnes. Isatta und ihr Sohn suchten das Lager ab, bis die Dämmerung sie zu ihrem Zelt zurücktrieb. Die ganze Nacht machte Isatta aus Sorge um Agnes kein Auge zu. Denn während fortgeschrittenes Alter zu Hause einen Schutz für eine Frau darstellte, hatte es hier keinerlei Bedeutung. Am nächsten Tag fand sie Agnes, wie sie, unversehrt, am jenseitigen Ufer des Flüsschens saß. Sie führte sie zurück zum Zelt. Tagelang sprach Agnes kein Wort, rührte sich nicht, aß nichts. Isatta machte sich darum keine Gedanken, denn es gab viele Frauen, die auf diese Weise trauerten.
Disziplin. Isatta verlor nie ihren Glauben daran. Nach ein paar Tagen zwang sie Agnes eine strenge Routine auf, die sie selbst ersonnen hatte. Jeden Morgen nach dem Waschen gingen sie zum Zelt des Roten Kreuzes, um die Liste der Neuzugänge zu lesen. In fast zwei Jahren hatte Agnes keine Nachricht über Naasu erhalten. Doch sie hatten beide von der Plünderung der großen Stadt gehört, in der, wie sie annahmen, Naasu lebte – ohne einen Vater, eine Mutter oder einen Ehemann.
Das Rotkreuzzelt war der Ort, an dem die Leute Nachrichten aus der Heimat austauschten. Neuankömmlinge waren wegen der Informationen, die sie haben konnten, besonders begehrt. Auf diese Weise erfuhren sie von der Wende, von den Truppen, die aus Übersee gekommen waren, von der langsamen verbissenen Rückeroberung der von Rebellen besetzten Gebiete. Jetzt, nach anderthalb Jahren Krieg, hatten die Regierungstruppen fast die Grenze und die Flüchtlingslager erreicht. Immer mehr von den Neuankömmlingen waren Menschen, die auf der Suche nach Angehörigen von einem Lager zum anderen wanderten. Eines Tages wandte sich eine Rotkreuzmitarbeiterin an Agnes und fragte sie nach ihrem Namen. »Kommen Sie mit«, sagte sie. »Wir haben eine Nachricht für Sie.«
Der Brief lag schon seit einem Monat da. Er kam von Naasu, die nach ihrem Vater, ihrer Mutter und ihren Schwestern suchte.
Naasu reiste ihnen entgegen, traf sie auf halbem Weg. Agnes, Isatta und Hassan waren die ganze Strecke zu Fuß gegangen. Jetzt waren wieder Fahrzeuge auf den Straßen, und dank Naasus Geld konnten sie den Rest des Weges in einem poda poda zurücklegen.
Während der Rückfahrt erzählte Naasu ihre Geschichte. Sie war fast ein Jahr lang in der großen Stadt geblieben, bei einer Arbeitskollegin, die sie bei sich aufgenommen hatte. Nach dem Eintreffen der ausländischen Truppen hatte sie noch gewartet, bis sie gehört hatte, sie könne jetzt gefahrlos in ihre Heimatstadt zurückkehren – vierzehn Monate nach dem Freitag, an dem sie
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