Lied aus der Vergangenheit
Flughafen keine Maschinen. Das Land war ein ruderlos treibendes Pestschiff.
Einmal, als er auf einem freien Platz stand, sah er ein Passagierflugzeug, auf dem Weg von einem Land in ein anderes, mit sonnenvergoldeten Tragflächen hoch oben vorüberziehen. Es erschien ihm unglaublich, dass darin Menschen saßen, die Wein tranken und von Plastiktabletts aßen, per Knopfdruck eine Stewardess herbeiriefen. Hatten sie auch nur die leiseste Vorstellung davon, was unmittelbar unter ihnen geschah – dass dort eine Nation sich selbst zerfleischte? Er fühlte sich wie ein Ertrinkender, der in der Ferne ein Schiff vorbeifahren sieht.
Und anschließend, als es endlich vorbei war, holten er und Tejani drei Jahre verpasster Spielfilme nach, sahen Mel Gibson in Lethal Weapon 4 , sahen Keanu Reeves aus einer virtuellen Welt entkommen, nur um dorthin zurückzukehren, Menschen eine geheimnisvolle Insel entdecken, auf der noch immer Dinosaurier lebten.
Wie verzweifelt sie sich hinaussehnten, konnten sie kaum in Worte fassen. Es war nie so sehr ein Gefühl als ein Fieber. Mit jedem einzelnen seiner Freunde, Angehörigen und Exkommilitonen, der es über den Zaun schaffte, freute Kai sich gleichermaßen, wie er sich beraubt fühlte. Er war dageblieben. Nenebah war dageblieben. Der Unterschied zwischen ihnen beiden war, dass Nenebah als einzige unter ihren gemeinsamen Freunden, ihren Angehörigen und Bekannten nie den Wunsch zu gehen verspürt hatte. Je mehr Leute das Land verließen, desto verbissener klammerte sie sich daran. Sie liebte ihre Heimat so, wie eine Mutter das Kind liebt, das ihr am meisten Kummer bereitet. Was passiert denn, wenn alle gehen? Sie verlangte von ihm, dass er ihr diese Frage beantwortete. Sie hatte es geschafft, dass er sich schuldig fühlte.
Jetzt ist er also an der Reihe, und er hat sich noch nie so hin- und hergerissen gefühlt. Denn nirgends ist er sich je so sicher gewesen, wer er ist, wie hier in diesem Gebäude, wo er kaum je einen Augenblick für sich hat. Er könnte sich in den Korridoren, Innenhöfen und Stationen mit geschlossenen Augen zurechtfinden. Draußen auf den Straßen erkennen ihn seine Patienten wieder, und er erkennt sie. Die Veränderung hat sich außerhalb seines Bewusstseins vollzogen. An dieser Stätte grauenerregender Albträume und langer Nächte weiß er, wer er ist.
Seine Flipflops saugen sich am nassen Beton fest. Eine kurzzeitige Brise lässt einen Schauer aus schweren Regentropfen von den Ästen eines Baums auf ihn niedergehen. Kai hebt das Gesicht zum Himmel und spürt, wie der Wind darüber hinwegstreicht. Er findet ein Pfefferminzbonbon in seiner Tasche, wickelt es aus und steckt es sich in den Mund.
Einen Augenblick lang ist er wieder so, wie er einmal war, vor dem Krieg, während seines Studiums. Er ist wieder dort und wieder heil. Die Krankenhausgebäude schrumpfen in sich zusammen, rücken auseinander und wachsen zu anderen Gebäuden mit anderen Abmessungen. Die Bäume verwandeln sich in blühende Flammenbäume, wie die auf dem Campus, mit weiß getünchten Stämmen. Aus dem Innenhof wird ein Rasen.
Er schaut auf und sieht sie. Da ist Nenebah, sie kommt auf ihn zu. Für einen Moment hält er sie in seinem Blick fest, ihr lang herabwallendes Schultertuch, die an die Brust gedrückten Bücher. Dann setzt sich die Gegenwart wieder durch, die Gebäude nehmen ihre ursprüngliche Gestalt wieder an, der Beton verfestigt sich. Die Frau, die wie Nenebah aussieht, ist immer noch da.
Die Frau sieht nicht aus wie Nenebah. Es ist Nenebah.
Er öffnet den Mund, um ihren Namen zu rufen, aber er bringt keinen Ton heraus. Denn im nächsten Moment sieht er, dass die Tür von Adrians Wohnung offen steht und Adrian hinter ihr herauskommt. Er sieht Adrians Hand an ihrem Rücken und das kleine Lächeln, mit dem sie reagiert, er sieht, dass sie zusammen sind. Er weiß nicht, woher, aber er weiß es ohne jeden Zweifel. Er steht im Hof, während der Regen sacht auf seine Schultern fällt. Und er ertrinkt.
44
»Ja, bitte. Mr Adrian?«
Adrian richtet den Blick auf Salia, und ihm wird plötzlich bewusst, dass er nicht ein Wort von dem gehört hat, was der Mann gesagt hat. »Tut mir leid. Könnten Sie das wiederholen?«
Salia sieht Adrian einen Augenblick lang an und wiederholt dann, ohne die geringste Ungeduld oder Verärgerung zu zeigen, was er gerade gesagt hat. Adrian ist sich dessen bewusst, dass auch Ileana ihn beobachtet. Er schließt die Augen und atmet ein Mal durch. Dann
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