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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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eigentlich ein Job für einen Mikrochirurgen, aber weder dieses noch sonst ein Krankenhaus im Land hat einen Mikrochirurgen. Heute ist Kai die beste Chance, die diese Frau hat. Die Angelegenheit stellt sich als knifflig heraus: die Sehnenenden, die sich in den Unterarm und die Hand zurückgezogen haben, ausfindig zu machen, sie herauszuziehen, sie ausreichend gespannt zu halten, bis er die zwei Enden aneinandergenäht hat. Er ist geduldig. Trotzdem, denkt Kai, wenn Seligmann früh genug im Ministerium fertig werden würde, wäre es mit Sicherheit von Vorteil.
    Er schaut zur Anästhesistin auf, die kerzengerade und mit weit aufgerissenen Augen auf ihrem Hocker sitzt, das Inbild eines Menschen, der verzweifelt gegen den Schlaf ankämpft.
    »Was ist mit ihr passiert? Wissen wir was?«
    Beim Klang seiner Stimme fährt sie leicht zusammen und schüttelt den Kopf. Kai kreiselt auf dem Hocker herum, um den Aufnahmebogen zu lesen, schiebt das Blatt mit dem Ellbogen zurecht. Verdacht auf Suizidversuch . Er erkennt die Handschrift eines der schwedischen Ärzte wieder – oder ist er Holländer? Er dreht sich wieder herum und sucht im Fleisch des Handgelenks nach dem Ende einer weiteren Sehne. Da ist sie, dünn und blass. Während seiner ganzen Laufbahn hat Kai noch keinen einzigen Selbstmordversuch behandelt oder auch nur von einem gehört. Er wird die Frau an Adrian überweisen. Seit ein paar Wochen hat Kai ihn so gut wie nicht zu Gesicht bekommen.
    Von Adrian gehen seine Gedanken zu Tejani über. Es ist jetzt nur noch eine Frage von Monaten, bis er seinen alten Freund wiedersieht. Kai fühlt, wie sein Herz einen überzähligen beklommenen Schlag tut. Erst vor ein paar Wochen hatte er jedes Mal, wenn er aus dem poda poda ausstieg, an der Schlange von wartenden Patienten vorbeiging und das Krankenhaus betrat, das Gewicht des Jochs gespürt. Jetzt macht ihm der Gedanke, das alles zurückzulassen, Angst. Er versucht, sich die Reise vorzustellen, die Ankunft, Tejanis und Helenas Zuhause. Er erlaubt, was er normalerweise nicht tut, seinen Gedanken, vorzugreifen, in eine namenlose Zukunft in einem namenlosen Krankenhaus. Er stellt sich weite weiße Fußböden vor, strahlende Leuchten, geräuschlose Bewegungen. Die Gesichter der Menschen bleiben nichtssagend.
    Mit der Pinzette zieht er am Ende der Sehne. Der Zeigefinger der bewusstlos auf dem Tisch liegenden Frau bewegt sich, als locke sie ihn zu sich heran.
    »Halten Sie mal«, sagt er zur Anästhesistin.
    Er fragt sich, ob Tejani je eine solche OP versucht hat. Er geht zur Tür und schaut durch die Glasscheibe. Auf dem Fußboden steht ein Eimer, aus dem ein menschlicher Unterschenkel ragt. Von Jestina, der OP-Schwester, die als Ersatz für Mary eingestellt wurde, beobachtet, ist Mrs Goma gerade dabei, einen um den verbleibenden Stumpf ordentlich wie ein Postpaket umgeschlagenen Hautlappen zu vernähen. Kai klopft an und steckt den Kopf durch die Tür.
    »Mrs Goma, dürfte ich mir Jestina kurz ausborgen?«
    Zwei Stunden später, und Kai hat sein Bestes getan. Klavierspielen können wird die Frau wohl nie, aber vielleicht sich selbstständig waschen und anziehen. Kai stößt die Schwingtür auf und verlässt den OP-Saal. In der Notaufnahme ist alles ruhig. Jetzt kommt Mrs Maras Büro. Er sollte mit ihr reden, ihr von seinen Plänen erzählen, die Dinge allmählich in Gang bringen. Vor der Tür zögert er. Er hört, dass sie am Telefon spricht, nach ihrem Assistenten ruft. Einen Augenblick später öffnet Mrs Mara die Tür. Wie gealtert sie aussieht, denkt er. Sie lächelt. Kai weiß, dass er einer ihrer Favoriten ist.
    »Hallo! Was machen Sie hier? Wollten Sie mit mir reden?«
    »Nichts Wichtiges. Kann warten.«
    »Nein, kommen Sie nur herein.«
    »Es könnte etwas Zeit in Anspruch nehmen. Ich komm später wieder.«
    Mrs Mara lächelt noch einmal. »Okay. Übrigens, wenn Sie Alex sehen, sagen Sie ihm, dass ich ihn suche, ja?«
    »Mach ich.« Er erwidert ihr Lächeln und fühlt sich wie ein Heuchler.
    Nach dem Mittagessen findet im Aufenthaltsraum ein Boulespiel statt. Als Kai die Tür öffnet, kommt ihm auf den schwarz-weißen Fliesen eine silberfarbene Kugel entgegengerollt. Kai tritt zurück. Die Kugel kommt zum Stillstand. Einer der Mediziner, ein kurz gewachsener Mann mit Glatze, schießt vor, misst mithilfe von Daumen und Zeigefinger den Abstand zwischen zwei Kugeln und juchzt auf. Kai nimmt nie an diesen Spielen teil, bei denen die ausländischen Kollegen meist unter sich

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