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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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wurde wütend und schrie ihn an. Auch über ihn würde geredet, sagte ich. Über ihn und eine Frau namens Vanessa.«
    Adrian wirft Mamakay einen Blick zu.
    Sie bemerkt seinen Blick. »O ja. Ich wusste von Vanessa. Ich wusste es schon seit Langem. Ich ging rauf in mein Zimmer und blieb dort. Ich sagte mir, dass mein Vater maßlos übertrieb. Das Komische war nämlich, dass er normalerweise eher dazu neigte, mich zu verhätscheln. Nach einer Weile ging ich wieder nach unten und fand ihn in seinem Arbeitszimmer. Er tat überhaupt nichts, saß einfach nur an seinem Schreibtisch. Er tat mir leid. Ich dachte, dass er vielleicht an meine Mutter dachte, so wie auch ich. Ich setzte mich auf den Fußboden und legte den Kopf in seinen Schoß. Er legte einfach die Hand auf mein Haar.«
    Wieder Schweigen. Sie hebt den Blick nicht vom Tisch, presst die Finger auf ihre Unterlippe. Als sie weiterspricht, ist ihre Stimme von beherrschter Emotion gedämpft.
    »In der Nacht führten Sicherheitskräfte eine Razzia auf dem Campus durch. Sie griffen die Studenten an. Es gab viele Verletzte. Sie gingen durch die Wohnheime. Zwölf Studenten wurden festgenommen. Die meisten von ihnen gehörten zu den Verfassern der Petition. Sie wurden rausgeworfen, und wir sahen sie nie wieder. Sie alle waren auf der Party bei einer der Studentenverbindungen, zu der auch ich eingeladen gewesen war. Später hieß es, da sei die Polizei als Erstes hingegangen. Anschließend verschaffte sie sich gewaltsam Zutritt zu den Wohnheimen. Mittlerweile wussten die Studentinnen und Studenten, was sich abspielte; ein paar Studenten versuchten, die Türen zu verbarrikadieren und Widerstand zu leisten. Du kannst dir vorstellen, was die mit ihnen gemacht haben …«
    Sie verstummt, dann nur noch einen letzten Satz. »Das waren meine Freunde.«
    »Danach hast du das Studium geschmissen.«
    »Ja. Ich hab’s geschmissen. Ich schämte mich.«
    Sie ruft den Besitzer und bittet um eine Zigarette. Er bietet ihr eine aus seinem Päckchen an. Sie nimmt sie und zündet sie ungeschickt an, macht zwei, drei Lungenzüge. Sie sprechen beide kein Wort. Während sie die nur halb gerauchte Zigarette ausdrückt, richtet sie die Augen auf ihn. »Du siehst also, es gibt ein paar Dinge, die du über ihn nicht weißt.«

43
    Seligmann ist am Nachmittag nicht da, ein Termin im Ministerium. Wenig wahrscheinlich, dass er vor Ablauf des Tages zurückkommt, was bedeutet, dass Kai und eine Anästhesistin den OP -Saal für sich allein haben. Nebenan führt Mrs Goma gerade mit ruhiger Effizienz und Elektrowerkzeugen eine Amputation durch. Die OP -Schwester pendelt zwischen den beiden hin und her.
    Kai sitzt auf einem Hocker, über seine Aufgabe gebeugt, während aus dem CD -Spieler Musik ertönt. Als er das nächste Mal zur Wanduhr aufschaut, ist schon eine Stunde vergangen.
    Heute fühlt er sich gut. Heute hat er sich im Griff. Letzte Nacht hat er, allein in Adrians Wohnung, vier Stunden geschlafen, dann sechs gearbeitet und anschließend wunderbarerweise noch einmal sechs geschlafen. Da Adrian sich immer noch nicht blicken ließ, hat Kai in der Krankenhauskantine gefrühstückt und ist dann in die Notaufnahme, um sich die ersten Fälle des Tages vorzunehmen. Gemeinsam haben er und Seligmann die üblichen Küchenfeuerverbrennungen und Leistenbrüche behandelt, dann einen interessanteren Neugeborenen mit Anus imperforatus. Danach nicht mehr viel. Seligmann fuhr in die Stadt, Mrs Goma kam vorbei, um die schon seit dem Vormittag eingeplante Abnahme eines gangränösen Beins durchzuführen. Kai bot ihr seine Hilfe an, aber sie winkte ab. Es war ein Routineeingriff, und sie schien, wie er selbst, gelegentliche Augenblicke des Alleinseins im OP zu genießen. Also holte Kai sich einen Kaffee und ging damit in das Chirurgenzimmer, um dort OP-Berichte zu schreiben. Er hatte gerade erst angefangen, als die Durchsage kam, in der Notaufnahme werde ein Chirurg gebraucht.
    Die lokal anästhesierte Frau saß auf einem der Betten. Von den Augen war nur das Weiße zu sehen, sie schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. Ein Geruch nach Ammoniak und Schweiß stieg von ihr auf. Kai wickelte den improvisierten Verband von ihrem rechten Handgelenk und fand darunter einen Einschnitt, der so tief war, dass, vielleicht mit Ausnahme der des Daumens, sämtliche Sehnen durchtrennt waren. Da Mrs Goma anderweitig beschäftigt und Seligmann außer Haus war, hat Kai allein angefangen, die Sehnen wieder zusammenzunähen. Es ist

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