Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
Vom Netzwerk:
Füße baumeln ein, zwei Handbreit über dem Sand. Aber das Kind strampelt, will sich befreien, also setzt die Mutter es ab. Es rennt davon. Die Mutter folgt ihm mit den Stiefeln in der Hand. Das Kind rennt und rennt: quietschend, ganz schwummerig vor Freiheit. Sein blondes Haar weht in seinem selbst erzeugten Wind.
    »Keine Kekse. Tut mir leid, mein Lieber. Ich hätte welche besorgen müssen, aber ich fahr nur ab und zu mal in den Ort, und selbst esse ich keine mehr. Als du angerufen hast, habe ich nicht geahnt, dass du so schnell hier sein würdest.«
    »Kein Problem«, sagt Adrian. Er wendet sich vom Fenster und dem kleinen Jungen ab, nimmt seiner Mutter das Teetablett aus den Händen und stellt es auf den niedrigen Tisch. Er sagt: »Du verbringst bestimmt viel Zeit einfach so mit Schauen.«
    Seine Mutter nickt. »Es ändert sich ständig, von Stunde zu Stunde. Es ist der Himmel, weißt du. Die Leute beklagen sich, dass Norfolk so flach ist, aber sie schauen in die falsche Richtung. Man muss den Kopf heben. Was zählt, ist der Himmel. Aber das weißt du natürlich. Das vergesse ich manchmal.«
    Er ist vergangenen Abend in einem lauen Licht angekommen, erschöpft von der langen Reise. Während des Abendessens, das sie, die Teller auf den Knien, einander gegenübersitzend im Wohnzimmer einnahmen, hatte er eher auf die Spiegelungen in der Fensterscheibe, auf das Kommen und Gehen seiner Mutter geachtet als auf das, was jenseits der Dunkelheit lag. Ihre Mahlzeit war karg, da sich die einst üppigen Kochsitten seiner Mutter dem strengen Diktat von Cholesterin- und Blutzuckerwerten hatten beugen müssen. Über den Grund seiner Anwesenheit fiel kein Wort. Adrian sagte von sich aus nichts, und seine Mutter stellte keine Fragen, wobei ihre Diskretion schon ein Zeichen dafür war, für wie ernst sie diesen Grund halten musste. Sie hatte eine Flasche ziemlich guten Weins geöffnet, eine Geste, die offenbar ebenso sehr Trost spenden wie den festlichen Anlass unterstreichen sollte.
    Ileana hatte ihn zur Fähre gefahren, die ihn zum Flughafen übersetzte. Die Maschine flog bei einsetzender Dunkelheit über die Sahara, und diesmal sah Adrian weder die Dünen noch den bis zu den Tragflächen aufwirbelnden Staub. Als er aufwachte, waren unter ihnen Berge, die Alpen vielleicht. Die Maschine landete am frühen Morgen, der Flughafen hell erleuchtet, kalt und menschenleer. Zahlreiche Passkontrollen. Vom Flughafen aus war Adrian mit einem Mietwagen direkt nach Norfolk gefahren. Das Tempo des Verkehrs auf der Schnellstraße hatte ihn erschreckt.
    »Milch?«
    »Ja, bitte.« Frische Milch. Aber er ist inzwischen so sehr an den leicht metallischen Beigeschmack der Dosenmilch gewöhnt, dass er ihn regelrecht vermisst.
    Am Vorabend haben sich Adrian und seine Mutter früh zurückgezogen. Adrian machte seine Erschöpfung geltend, obwohl er gleichzeitig voll nervöser Energie war. Sobald seine Mutter zu Bett gegangen war, verließ er sein Schlafzimmer und kehrte ins Wohnzimmer zurück, um die Zeitung zu lesen und dann im Nachrichtenkanal die Nachrichten zu sehen, die sich flimmernd in der Obsidianwand spiegelten. Während seiner Abwesenheit schien sehr viel passiert zu sein. Als die Endlosschleife in die dritte Runde ging, waren ihm die Meldungen bereits alle vertraut. Während der Nacht wurde er einmal durch ein seltsames Geräusch geweckt, wie den Schrei eines Nachtvogels. Er legte den Kopf aufs Kissen zurück, lauschte dem Rauschen der See, dem langsamen Atem eines Riesen. Nach wenigen Minuten versank er in einen tiefen Schlaf, der sieben Stunden dauerte.
    Als er aufwachte, war es ein blass-bernsteinfarbener Frühherbsttag. Die See war still, tief in die Ferne geebbt. Meilen von funkelndem feuchtem Sand.
    Er betrachtet seine Mutter, während sie den Tee einschenkt, mit der freien Hand eine silberne Strähne zurückstreicht, die ihr in die Augen hängt. Seit seinem letzten Besuch hat die Anzahl der Assemblagen auf dem Rasen zugenommen. Irgendetwas, das wie ein horizontales Stonehenge aussieht. Ein Mann und eine Frau, er aus scharfkantigen Steinen zusammengesetzt, sie aus glatten runden Kieseln, einen gespaltenen Stein im Zusammenfluss ihrer Schenkel. Nach dem Frühstück haben sie einen Spaziergang am Strand gemacht, in dessen Verlauf Adrian seiner Mutter den Grund seiner Rückkehr nannte und seine Mutter ihm zuhörte, während sie allerlei Strandgut und gelegentlich Kiesel aufsammelte und sich in die Hosentaschen steckte, bis sie so knollig

Weitere Kostenlose Bücher