Lied aus der Vergangenheit
Rahmen zurück. Adrian blättert im Zeichenblock, zurück bis zu den allerersten Skizzen des Honigsaugers vor dem Fenster seiner Wohnung im Krankenhaus. Er denkt an Kai und fragt sich, ob er noch immer dort schläft. Oder ob Mamakay noch an ihn denkt.
»Da!« Mamakay hält die gerahmte Zeichnung des Flughundes hoch. Er lächelt sie an. Ja, das ist eine seiner besten Arbeiten. Die beste, die er gemacht hat, seit er in diesem Land ist.
Spätabends, lange nachdem sie gegessen und sich geliebt haben, nimmt er sich wieder seinen Zeichenblock vor. Mamakay liegt auf dem Rattansofa; eine lappa ist um ihren Körper gewickelt und mit einem schweren Knoten im Nacken zusammengebunden.
Der Regen hat sich verzogen, und die Abendluft ist schwerelos. Die Hitze ist zur Abwechslung einmal wieder in die Erde zurückgeflossen. Eine Brise spielt mit dem Saum von Mamakays Gewand. Die Stadt scheint weit weg zu sein. Lange betrachtet er Mamakay, den Zeichenblock auf seinem Schoß. Es fällt ihm schwer, dem Drang, sie zu berühren, zu widerstehen. Sie liest im gelben Lampenlicht, liegt auf dem Rücken und hält sich das Buch eine Handbreit vor die Nase, den anderen Arm hinter sich geworfen. Sie legt sich das Buch auf die Brust, bleibt aber ansonsten so liegen. Adrian greift zum Bleistift.
In dieser Nacht zeichnet er sie, ohne alle Vorstudien und Skizzen, von Anfang an bemüht, jede einzelne Linie ihres Körpers einzufangen. Eine nach der anderen kommen die Linien aufs Papier, jede an ihrer Stelle. Er arbeitet mit äußerster Konzentration, spürt die Anspannung in seinem Magen. Er ist ganz lebendig im Jetzt, bangt vor jedem nächsten Strich und weiß gleichzeitig, dass er nicht innehalten darf, oder der Rhythmus, die unerklärliche Alchemie von Hirn und Augen und Hand, der ihn gegenwärtig antreibt, wäre dahin. Einmal aufs Papier gebannt, wird der Augenblick für immer Bestand haben, wird er ihn nie wieder vergessen. Er konzentriert sich darauf, dass Mamakay ihre Haltung nicht verändern darf. Immer weiter zeichnet er, bis der exakte Augenblick kommt, an dem er fertig ist. Vielleicht zum ersten Mal erkennt er diesen Augenblick, sobald er da ist. Keinen einzigen Strich ausradiert oder nachgezogen. Mamakays Bildnis ist eine nahtlose Folge von geschwungenen, sich verjüngenden Linien. Eine Haarlocke, die weiche Wölbung ihres Unterleibs. Es ist anders als alles, was er jemals gezeichnet hat.
»Wenn du so auf Flughunde stehst, kann ich mal einen Ausflug mit dir machen.«
Er hatte geglaubt, sie habe geschlafen, so unbewegt lag sie da.
Wo sind sie? Adrian hat keine Ahnung. Er dreht sich um und folgt mit den Augen dem Kanu, das der alte Fischer mit seinem schmalen Paddel zurück in die Wellen steuert. Eine Kanone liegt halb untergetaucht da. Eine kleine Mole langt in die See. Ein Fort, verwitterter Stein, dick geädert von Schlingpflanzen, ragt über sie auf. Mamakays Schritte sind jetzt kürzer, sie atmet etwas schwerer. Es ist schon spät, vielleicht sechs.
Ein Pfad führt vom kleinen kiesigen Strand ins Innere der Insel, vorbei an einem Friedhof, auf dem ein halbes Dutzend Grabsteine stehen. Adrian hält inne, um die Namen zu lesen, und staunt über den Aufwand, der vor so vielen Jahren getrieben wurde, Wörter in schottischen Granit zu meißeln und den hierher zu schaffen für das Grab eines Seemanns, dessen Leben auf dieser Insel bereits nach wenigen Monaten zu Ende gewesen war. Eine wellige Kette von kleinen Hügeln, fast mannshoch. Haufen von Austernschalen, Tausende und Abertausende, Zeugnisse einer lang vergangenen Zeit, da die Männer, die hier lebten, sich von Austern und Rum ernährten; die Flaschen liegen auf dem Strand, sind zwischen die Felsen gerammt, rollen vor und zurück auf dem Meeresboden.
Jetzt geht es abwärts, fort von den Austernhügeln, einen schmalen Pfad entlang, der sich um die Nase einer zerfallenden Mauer schmiegt.
»Hier.« Mamakay dreht sich um und bleibt stehen. Sie stehen vor einem Tor, oder vielleicht ist es auch der Eingang einer Höhle. Adrian steckt den Kopf durch die enge Pforte. Eine gigantische, gedrängt volle Finsternis, brodelnd von Leben, vom Schlag einer Milliarde pochender Herzen. Adrian kommt es so vor, als sei die Insel selbst ein lebendiges Wesen, dessen Zentrum sie jetzt beide erreicht haben.
Draußen, vor dem Höhleneingang, warten sie auf die Nacht. Während sich draußen das Dunkel verdichtet, hören sie aus dem Höhleninneren ein Sich-Regen, Erwachen. Der erste Flughund kommt
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