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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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jeweiligen Vergangenheit leben, nicht? Man könnte fragen, was Sie hierher geführt hat. Mitgefühl? Erfolgsstreben? Das Scheitern Ihrer Ehe, das sich in dem Ring ausdrückt, den Sie nicht mehr tragen? Und warum hier?
    Babagaleh hat mir erzählt, dass Ihr Großvater Silk hieß. Dass er hier in der Kolonialverwaltung tätig war. Natürlich fand ich das als Historiker interessant. Glücklicherweise ist unsere dokumentierte Geschichte so kurz, dass ich den größten Teil davon auswendig weiß. Silk gehörte der Administration von Stevenson an, dem Amtsvorgänger von Beresford-Stooke. Eine glanzlose Laufbahn, wenn Sie mir dieses Urteil gestatten. Wäre nicht das kleine Fiasko mit der Revolte der Häuptlinge gewesen, wage ich zu behaupten, dass er es noch weit gebracht hätte.
    Babagalehs Bruder – ich verwende das Wort nicht im wörtlichen Sinne, er behauptet, so viele zu haben – arbeitet als Barkeeper im Ocean Club. Habe ich das je erwähnt? Der Bursche dürfte kurz vor dem Rentenalter stehen. Er war schon zu meiner Zeit da.
    Adrian schweigt. Cole, der ihn nicht ansieht, sondern aus dem Fenster starrt, fährt fort. »Mag sein, dass in der Vergangenheit ein paar Dinge geschehen sind, die damals weniger Gewicht hatten, als es heute der Fall ist. Oder umgekehrt. Die damals wichtig zu sein schienen und jetzt so gut wie vergessen sind. Während ich hier liege, wird meine Zeit immer knapper. Es ist schwierig für mich, nicht an diese Dinge zu denken.
    Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Wir sprachen über Johnson. Was für ein Typ! Ich mochte ihn nicht. Ja, es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass ich ihn hasste. Aber verstehen Sie, einen Mann wie Johnson macht man sich nicht zum Feind. Nicht wenn man auch nur einen Funken Verstand hat. Heißt es nicht, dass man seine Freunde nah bei sich behalten soll, seine Feinde aber noch näher? Was immer ich getan habe, habe ich für Mamakay getan. Sie war dem Schauplatz des Geschehens zu nah. Sie riskierte, mit hineingezogen zu werden. Johnson war den Aufwieglern schon auf der Spur. Ob mit oder ohne mein Zutun, das Netz zog sich bereits zusammen. Ich musste mein Fleisch und Blut schützen. Jeder Vater hätte das Gleiche getan. Wenn ich Johnson eine Liste mit Namen gab, dann weil ich keine andere Wahl hatte. Konnte ich etwa wissen, was er damit machen würde?
    Julius war ein Narr. Er weigerte sich zu sehen, was sich zusammenbraute, obwohl es klar und deutlich zu erkennen war. Vielleicht bildete er sich ein, er könnte die Wetterlage beeinflussen. Er reizte Johnson, ebenso wie er Dekanat und Rektorat reizte.
    Bisweilen frage ich mich, wozu er es gebracht hätte, wenn er nicht gestorben wäre. Wäre er Dekan seiner Fakultät geworden? Unwahrscheinlich. Er war ein Träumer. Er träumte davon, Städte zu bauen, Brücken, Türme bis in den Himmel zu errichten, zum Mond zu fliegen – das muss man sich mal vorstellen!
    Diese Nacht, die erste Nacht, in der ich in Johnsons Gewalt war, war die schlimmste meines Lebens. Ich habe Ihnen ja erzählt, was geschah. Er stahl meinen Kuchen, machte mich glauben, er würde zurückkommen, ließ mich da sitzen und kehrte nicht mehr wieder. Ich hämmerte gegen die Tür, und niemand kam.
    Ein, zwei, ich weiß nicht, wie viele Stunden lang, ließ sich niemand blicken. Zu guter Letzt kam aber doch jemand. Nicht Johnson, denn er war inzwischen nach Hause gegangen, einer seiner Wärter. Man ließ mich hinaus und führte mich die Treppe hinunter in einen anderen Raum. Dort war es viel kühler, wofür ich zunächst dankbar war. Aber allmählich wurde es kalt, und die Kälte ging mir durch Mark und Bein. Ich versuchte zu schlafen. Irgendwann in dieser Nacht kam mir dieses Bild von mir: eine dunkle, unordentliche Gestalt. Eine Gestalt bar jeden Merkmals und dennoch unverwechselbar mein, der Schatten von mir. Ich schlief wieder ein und wurde durch einen Schrei, wie ich meinte, irgendwo im Gebäude, aufgeweckt. Ich setzte mich auf und lauschte. Stille. Der Schrei, wenn es denn einer gewesen war, wiederholte sich nicht. Dafür hörte ich etwas anderes, ein Geräusch wie von einem winzigen Kreisel, ein Schwirren und ein Klimpern. Es kam regelmäßig, in Abständen. Jedes Mal das gleiche Geräusch, doch mit genügend Varianz, um eher an einen menschlichen Urheber denken zu lassen als an das Geräusch einer Maschine. Nach einiger Zeit meinte ich, es wiederzuerkennen. Wie Sie sich erinnern werden, habe ich Ihnen erzählt, dass Julius fast immer etwas in der Tasche

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